182. Dschahis war
Dschahis war in seine Stiefmutter verliebt, die eben so
schön und dumm, als er geistreich und hässlich war. Um sie
willfährig zu machen, ersann er folgende List: Er brachte ihr
einen Brief von ihrem Vater, der sie zu sich einlud, weil er
auf dem Todbette läge, und sie noch einmal zu sehen wünschte.
Dschahis trug sich an, sie zu begleiten, und sein Antrag ward
angenommen. Sie schnürte ihren Bündel, und Dschahis machte
sich unterdessen fort, um auf der Straße, worauf die Reise
ging, an gewissen Orten Lebensmittel zu vergraben. Am
folgenden Morgen ward die Reise angetreten. Sie waren schon
eine zeitlang in der größten Hitze geritten, als die
Stiefmutter einige Erfrischung verlangte. Dschahis
entschuldigte sich, er habe darauf vergessen einige
mitzunehmen, sie müsse also Geduld haben bis zum nächsten
Dorfe.
In diesem Augenblicke flog ein Rabe krächzend vorüber. O du
Lügner! schrie Dschahis. – Wen schiltst du einen Lügner?
fragte die Stiefmutter. – Diesen Raben, der mir weis machen
will, unter jenem Baume seien Fische, Brod und Limonen
vergraben. – Wie verstehst du denn das? – O, ich habe gar viel
studiert, wiewohl ich noch jung bin. Durch Zufall habe ich
eine Grammatik und ein Wörterbuch der Vögelsprache gefunden,
und verstehe sie nun so ziemlich. Die Frau, die sehr hungrig
war, dachte, der Rabe könnte doch wahr geredet haben, und bat
ihren Begleiter, Halt zu machen und nachzugraben unter dem
Baume. Sie fanden Fische, Brod und Limonen, und die
Stiefmutter betrachtete ihren Sohn als einen großen Gelehrten.
Nachdem sie eine Weile weiter fortgezogen waren, flog ein
andrer Rabe krächzend vorüber. Ei, du Erzlügner! rief Dschahis.
– Mein lieber Herr Sohn! sagte die Frau, was spricht er denn?
man muss dies ehrliche Volk nicht so leicht Lügen schelten. –
Wenn wir ihm Glauben beimessen sollten, sprach Dschahis, so
fände sich dort unter jenem Baume einen Braten und eine
Pastete. Die Stiefmutter drang darauf, Halt zu machen, und sie
fand alles richtig, wie es der Rabe gesagt hatte. Sie glaubte,
ihr Sohn sei ein großer Heiliger, und küsste ihm
ehrfurchtsvoll die Hände. – Sie hatte sehr gut gespeist, aber
nichts zu trinken gehabt, und hätte vor Durst vergehen mögen.
Bald darauf krächzte ein andrer Rabe. – Ei, du Spitzbube! rief
Dschahis. – Lieber Herr Sohn! tu dem ehrlichen Gesichte kein
Unrecht; glaube mir, diese Raben sind Apostel der Wahrheit.
Was sagt er denn? – Dort unter jenem Baume seien Flaschen mit
Wein und Sorbet vergraben. Es war richtig so; sie tranken vom
besten Weine und lagen noch hingestreckt im hohen Grase, als
ein vierter Rabe über ihren Köpfen krächzte. – Ei, du
schändlicher Lügner! ei, du gottloser Betrüger! schrie
Dschahis ganz erbost. – Verleumde nicht so den guten Raben,
sagte die Stiefmutter, seine Worte sind ja richtig und wahr,
wie der Koran. Was sagt er denn? – O, ich schäme mich, es nur
zu wiederholen, wiewohl ein großes Unglück mit im Spiele ist.
– Dschahis weigerte sich lange, und stellte sich sogar, als ob
er weinte aus Scham und Betrübnis. Endlich, auf vieles Bitten,
rückte er mit der Sprache heraus: Wenn du, liebste Frau
Stiefmutter, so sagt der Rabe, mich nicht auf der Stelle
umarmest, so stirbt in diesem Augenblicke dein Vater und dein
Kind. – Was war zu tun? an der Glaubwürdigkeit des Raben war
es unmöglich zu zweifeln. Dschahis behauptete zwar, es schicke
sich nicht; je mehr er sich aber weigerte, desto dringender
bat ihn die Stiefmutter, das Leben ihres Vaters und ihres
Kindes zu retten. Sie küsste ihm Hände und Füße, und gab nicht
nach mit Bitten, bis er sie dreimal umarmt hatte.