80. Eines Abends
Eines Abends ward dem Chalifen Harun Raschid die Zeit
ungewöhnlich lang. Er schien sich selbst abgestumpft für alle
Empfindungen, beraubt des Gefühls für Lust und Schmerz. Er
ließ den Vorsteher des Harems, seinen vertrauten Mesrur,
kommen und sagte ihm: Erfinde mir doch etwas, mich der
Langenweile zu entreißen, die mich peinigt. – Wie kann dein
Herz fühllos geworden sein, Fürst der Rechtgläubigen! Gott der
Herr hat doch so viele Dinge erschaffen im Himmel und auf
Erden, und es hängt nur von dir ab, sie deinem Vergnügen
dienstbar zu machen. – Was meinst du hiermit? Weise mir etwas,
das mein erstorbenes Gefühl wieder beleben kann. – Erhebe
dich, Fürst der Rechtgläubigen, und lass uns des Palastes
Terrasse besteigen. Von dort wollen wir hinausschauen in die
lichtdurchpflügten Felder des Himmels, und auf die Herden der
Sterne. – Mesrur, das freut mich nicht. – Nun, so öffne, Fürst
der Rechtgläubigen, das Balkonfenster deines Palastes, das in
den Garten hinabsieht. Horche den Zaubergesang der
Nachtigallen, atme den Duft der Blumen, höre wie das Schöpfrad
(Naura1) in's
Gezirpe der Grillen schwirret. – Nichts von alle dem freut
mich, Mesrur. – Öffne dann, Fürst der Rechtgläubigen, die
Fenster des Palastes, die auf den Tiger hinausgehen. Erfreue
dich im Anschauen des Waldes von Masten und Wimpeln, am
Gewimmel der Nachen, am treibenden Gedränge des Handels und
Wandels. – Mein Herz hat keinen Sinn dafür, Mesrur. – Lass
denn die Pferde deines Hofstalles vorführen: deine arabischen
Stuten, deine persischen Hengste, deine Rappen, schwarz wie
die Nacht, mit glänzendem Stirnhaar und drei weißen Füßen,
deine Schimmel, weiß und gezeichnet wie der Morgen, voll
flockiger Lichtwolken; deine Falben, golden wie die Sonne,
deine Füchse, brennend wie die Glut. – Alles dies hat seinen
Reitz für mich verloren, Mesrur. – Fürst der Rechtgläubigen,
du hast dreihundert Sklavinnen in deinem Harem, von jeglicher
Farbe, jeglicher Bildung, jeglicher Kunst. Weiße und schwarze,
große und kleine, volleibigte und schmächtige, spröde und
wollüstige, neue und ausgelernte. Lauten- und
Harfenspielerinnen, Pauken- und Halbtrommelschlägerinnen,
Sängerinnen und Tänzerinnen. Lass sie insgesamt kommen, daß
sie dir die Zeit vertreiben. – Sie würden mich nur noch mehr
langweilen, Mesrur. – Nun wahrhaftig, Fürst der
Rechtgläubigen! so weiß ich nichts mehr in Vorschlag zu
bringen, als dass du diesem deinem Sklaven den Kopf vor die
Füße legen lassest, wenn dich das etwa freuen kann. Er hat es
auch verdient, weil er gar nichts zu erfinden im Stande ist,
das deiner Majestät die Zeit kürzen könnte.
Du weißt Mesrur, was der Prophet gesagt: Mein Volk erfreuet
sich dreier Dinge. Es freut sich zu sehen, was es nie gesehen,
zu hören, was es nie gehört, zu wohnen, wo es nie gewohnt hat.
Wenn du nun in Bagdad Etwas kennst, das ich noch nicht gesehen
oder gehört, einen Ort, den ich noch nicht besucht habe, so
lass mich damit Bekanntschaft machen. – Mit deiner Erlaubnis,
Fürst der Rechtgläubigen, will ich in den Vorsaal hinausgehen
und sehen, ob kein Fremder da ist, der Etwas zu erzählen
wisse, das du noch nie gehört. – Tue so, das ist ein
gescheiter Einfall, Mesrur. – Der Vorsteher des Harems ging
hinaus und kam bald darauf zurück mit Dschemil, dem Dichter.
Dschemil küsste die Erde vor den Füßen des Chalifen und
sprach: Heil dir, Fürst der Rechtgläubigen, Schützer des
Glaubens, Neffe des Herrn, und Fürsten der Propheten, (Gott
wolle ihm den ewigen Frieden gewähren, dir das Paradies zum
Aufenthalts verleihen, und deine Feinde in den Abgrund der
Hölle stürzen)! Der Chalife gab ihm den Gruß zurück, befahl
ihm, sich niederzusetzen, und eine schöne, neue, und rührende
Geschichte zu erzählen. – Soll ich erzählen, fragte der
Dichter, was ich durch Sagen gehört und vernommen, oder was
ich in eigener Person gesehen und bezeuget? – Besser ist,
antwortete der Chalife, was vom Auge gesehen, als was vom Ohre
gehört wird.
Harun setzte sich auf sein Sopha von rotem goldbestickten
Damaste, legte die Füße auf einen Polster, stützte die Arme
auf zwei andere, und sagte, beginne nun mit der Erzählung. –
Ehe ich beginne, Fürst der Rechtgläubigen! schenke mir drei
Dinge zum voraus. – Was denn? – Dein Ohr, deinen Geist, dein
Herz. – Ich schenke sie dir, sprach Harun, und Dschemil,
nachdem er sich dreimal den Bart gestrichen hatte, denn husten
und räuspern durfte er nicht in Gegenwart des Chalifen, begann
folgendermaßen:
Ich zog einst durch die Wüste, um ein mir liebes Mädchen
aufzusuchen. Die ersten Tage wanderte ich durch bebaute
Gegenden, und labte meine Seele am Rauschen der Bäche, am
Gesange der Vögel, am Glanze der Wiesen, am Schatten der
Felder. Hierauf verwandelte sich die Szene. Sandhügel und
Dornenbüsche, Löwengebrüll und Schakalengeheul. Die Nacht sank
tief herein, da erblickte ich von ferne ein Feuer, und trieb
mein Kamel darauf zu. Als ich näher kam, sah ich ein Zelt
aufgeschlagen, eine Lanze in die Erde gesteckt, eine Fahne
wehen, Pferde angebunden, Kamele weidend. Ich schloss
sogleich, dies sei der Sitz eines vornehmen Beduinen, wiewohl
ich noch keine Seele sah. Endlich trat ich in die Hürde, und
rief: Seid gegrüßt, ihr Hürdenbewohner, Gottes Segen über
Euch! Da kam ein Jüngling von neunzehn Jahren, und vollendeter
Schönheit der Jugend heraus, und grüßte mich. Heil und Gottes
Segen dir Bruder Araber, ich glaube, du hast den Weg
verfehlet. Ich antwortete: So ist's, führe mich zurechte. In
unserer Gegend, erwiderte er, gibt es viele wilde Tiere; die
Nacht ist schwarz und wild. Du läufst Gefahr, von Löwen und
Hyänen zerrissen zu werden. Du tust besser, diese Nacht hier
zu bleiben, und morgen will ich dich auf den rechten Weg
leiten. Ich zog meine Kleider aus, und setzte mich nieder. Der
Jüngling schlachtete ein Lamm, briet es, richtete es mit Salz
und Gewürze zu, und bewirtete mich mit einem köstlichen
Nachtmahl. Von Zeit zu Zeit trat eine Träne in sein Auge, oder
er holte einen tiefen Seufzer, blieb lange in tiefes
Stillschweigen versenkt, oder brach auf einmal in Verse aus,
wie diese:
Schwach sind die Züge meines Odems,
Der Glanz des Auges ist verloschen,
Und jeden Muskel, jede Nerve
Zerfoltert bittrer Gram und Kummer.
Die Träne fließt; die Eingeweide
Zerschmelzen in des Feuers Gluten.
Selbst meinen Feind bewegt mein Leiden:
Er schenkt mir Mitleid und Erbarmen.
Ich begriff sogleich, dass ihn nur die Liebe in diesen
Zustand versetzt haben konnte. Doch wagte ich es nicht, ihn zu
fragen, was unschicklich ist für einen Fremden, der eben
angekommen, und so gastfreundlich aufgenommen worden war. Nach
dem Mahle kam er mit einem goldenen Becken, und mit einer
goldenen Kanne, aus der er das Wasser aufgoss, die Hände zu
waschen, und mit einem seidenen Tuche dieselben abzutrocknen.
Ich wunderte mich, dass ich solche Pracht in der Wüste
fand. Nachdem wir eine Zeitlang geplaudert hatten, hieß er
mich ins Zelt kommen, und wies mir mein Lager auf grünsamtnen
Tapeten an. Ein Vorhang von roter Seide trennte mich von ihm.
Ich dachte noch vieles hin und her, als ich ein leises Lispeln
vernahm, so süß und hold, als ich es nie in meinem Leben
gehört. Ich lüftete ein wenig den Vorhang, der die Scheidewand
formte, und sah ein überaus schönes Mädchen, das mit dem
Jüngling klagte und weinte, und vieles koste über Liebe und
Hass, Genuss und Trennung, Sehnsucht und Lust. So wahr Gott
lebt! sprach ich bei mir selbst, das ist wundervoll! diese
Schönheit ist gewiss nichts[ anders als eine Fee, die den
Jüngling in diesem wüsten Orte einsam für sich zurück behielt.
Doch als ich besser spähte und horchte, sah ich, dass es ein
arabisches Mädchen war, deren Gesicht die Sonne gebräunt
hatte. Als ich länger ihren Liebkosungen zusah, ward ich böse
auf mein einsames Lager, ließ den Vorhang wieder nieder,
umwickelte mir die Augen mit her Kopfbinde, und schlief bis an
den Morgen. Nach vollbrachtem Morgengebet bat ich den
Jüngling, mir den Weg zu zeigen. Er aber antwortete: Bruder
Araber, drey Tage lang dauert die Gastfreundschaft, und ich
lasse dich nicht eher fort. So blieb ich denn drei Tage, und
am vierten erkundigte ich mich um den Namen des Stammes. Ich
bin, antwortete er, aus dem Stamme der Söhne Asara's, und
heiße so und so. – Sieh da! es war mein leiblicher Vetter, aus
einer der ersten und vornehmsten Familien der Söhne Asara's.
Mein Vetter! rief ich, indem ich ihn umarmte, was hat dich
denn zu diesem einsamen Leben bewogen? – Bey diesen Worten
wurden seine Augen feucht, und er sprach: Ich liebte von
Kindheit auf meine einige Base. Meine Liebe grenzte an
Wahnsinn. Ich begehrte sie von ihrem Vater zur Ehe; er
verweigerte sie mir, und gab sie einem Andern aus dem Stamme
Asara. Ihr Gemahl zog mit ihr auf jene Anhöhe, die du siehst,
und ich floh seitdem aus der Gesellschaft meiner Familie. Des
Tages hindurch hängt mein Auge an der Spitze des Hügels, der
ihre Zelten trägt, und in der Nacht, wenn der Schlaf auf den
Augen der Menschen liegt, besucht sie mich und klagt und weint
über das Loos unserer Trennung. Vetter, sprach ich, gerührt
durch diese Erzählung, ich gebe dir einen Rath, wenn du ihn
befolgen willst. Wenn in der Nacht die Geliebte kommt, setze
sie aufs schnelltrabendste Kamel, ich und du nehmen Pferde,
und eh' es noch Morgen wird, sind wir über Berg und Tal, und
Heide und Feld. Gottes Erde ist weit, und ich stehe dir zu
Dienst mit meinem Schwert und Muth. – Ich will darüber,
antwortete er, mit meiner Geliebten sprechen; sie ist
vorsichtig und bedachtsam. Die Stunde der Nacht kam, und das
Mädchen erschien nicht. Der Jüngling trat vors Zelt hinaus,
und hauchte in langen Zügen den Wind ein, der von der Wohnung
seiner Geliebten her blies. Endlich kehrte er ins Zelt zurück,
saß lange stillschweigend, weinte, und sagte: Diese Nacht,
mein Vetter, kommt meine Geliebte nicht mehr. Bleibe nun an
meiner Stelle, bis ich dir Kunde bringe. Dann nahm er sein
Schwert, und ging davon. Nach einiger Zeit kam er zurück,
Etwas, das ich nicht gleich erkennen konnte, in der Hand
haltend. Er schrie wahnsinnig. Ich eilte auf ihn zu. Siehst du
das, sprach er, Vetter? Meine Geliebte kam, wie gewöhnlich,
aber sie ward auf ihrem Wege von einem Löwen zerrissen. Dies
sind die Reste ihrer Hirnschale und ihrer Locken. Wahnsinnig
schrie er fort, küsste bald den blutigen Schädel, und bald die
Locken, und ging wieder hinaus mit der Bitte, ich möchte
bleiben. Nach einer Weile kam er mit dem Kopfe des Löwen in
der Hand, warf denselben zur Erde, begehrte Wasser, wusch den
Löwenrachen, und küsste denselben, weinte, heulte, und
überließ sich der Wut des Schmerzes. Dann sprach er: Vetter!
ich beschwöre dich bei Gott, und bey unserer Verwandtschaft,
erfülle meinen letzten Willen. In einer Stunde bin ich ein
kalter Leichnam. Dann wasche mich, wickle mich ins
Leichentuch, begrabe mich mit dem Reste dieses Gebeins, und
der teueren Locken, und schreibe darauf:
Die Erde gab uns vormals Nahrung,
Sie war uns Vaterland, Gesellschaftsort.
Da trennte uns des Schicksals Tücke,
Nun hat der Staub uns abermal vereint.
Er schluchzte heftig, ging hinaus, setzte sich mit dem
Gesichte gegen den Hügel, wo das Zelt seiner Geliebten, schrie
laut auf, und verschied. Ich tat, wie er verlangt hatte, wusch
ihn, begrub ihn, und errichtete ihm und seiner Geliebten ein
Grab, das ich seitdem alle Jahre einmal besuche, nicht ohne
tiefe Rührung.
Die Geschichte der Barmekiden.
Auf immer wirb der Name der Barmekiden in der Geschichte
blühen, durch die unbegrenzte Macht, deren diese Familie unter
der Regierung Harun Raschids genossen, und durch die seltenen
Züge von Großmut und Freigebigkeit, so im ganzen Orient zum
Sprichworte geworden.
Nichts hielt mit ihrer Freygebigkeit gleichen Schritt, als
ihr Reichthum, und die Pracht, so ihnen durch die höchsten
Würden des Reiches zuwuchs, so zuerst die Eifersucht des
Chalifen erregte, und die erste Veranlassung ihres Falles
ward. Verschiedene Geschichtsschreiber haben uns hierüber
Erzählungen geliefert, die wir als zerstreute Perlen hier
aneinander reihen wollen2.
Fußnoten
1 Diese Wasserräder, welche von Pferden oder Ochsen
getrieben werden, um die Felder zu bewässern, sind im ganzen
Orient, besonders in Ägypten, anzutreffen, und haben sich auch
in Spanien erhalten. Der einförmige, schnarrende Ton derselben
ladet sehr zur Melancholie ein.
2 Die Anekdote von dem Ursprunge des Beinamens Barmek,
Giftsauger, (weil der Ahnherr dieser Familie beständig für
unvorgesehene Fälle Gift im Ringe getragen) wird hier als zur
Genüge aus Herbelot und Andern bekannt, mit Bedacht
übergangen.