96. Ibrahim, der Sohn Mahadi's
Ibrahim, der Sohn Mahadi's, der ein Jahr und elf Tage lang
auf dem Chalifenstuhle gesessen hatte, ward entthront von
seinem Vetter Mamun, der sogleich einen Preis von einmal
hunderttausend Dirhem auf seinen Kopf setzte. Ibrahim irrte
unerkannt herum in den Gassen von Bagdad, einen Zufluchtsort
zu suchen. Er sah vor einer offenen Haustüre einen Schwarzen
stehen, und bat ihn um die Erlaubnis, auf einige Augenblicke
ins Haus gehen zu dürfen. Der Schwarze ließ ihn hinein, hieß
ihn niedersitzen, und brachte ihm zu Essen. Ibrahim traute
sich kaum die Augen aufzuschlagen, oder zu atmen, aus Furcht,
erkannt zu werden. Endlich brachte ihm der Schwarze eine Laute
und sprach: Ich sehe wohl, dass du mein kleines Mahl deiner
nicht würdig findest, aber singe immer ein wenig, während ich
trinke. Ibrahim fragte, wie er in ihm das Talent der Musik
ausgefunden habe. Hilf Himmel! rief der Schwarze, das weiß ja
die ganze Welt, dass Ibrahim, der Sohn Mahadi's, der Chalife,
ein vortrefflicher Tonkünstler ist. Ibrahim, der sich erkannt
sah, konnte die Bitte nicht abschlagen. Er nahm die Laute,
begleitete damit seinen Gesang, und fuhr so viele Tage
hindurch fort, seinen Gastgeber mit Musik zu unterhalten.
Endlich aber fürchtete er sich ihm lästig zu wer den, und
machte sich heimlich davon in Frauenkleidern. Er durchstrich
mehrere Gassen von Bagdad, nicht ohne große Gefahr, erkannt zu
werden. Zuletzt begegnete er einem seiner alten Diener, der
ihn erkannte, und nicht von sich lassen wollte. Ibrahim hatte
genug Geistesgegenwart, den Zudringlichen ins Wasser zu
werfen. Dann rettete er sich in das Haus einer Frau, welche
ihm einen Zufluchtsort versprochen hatte. Er hatte sich kaum
ein wenig zu erholen angefangen, als Jemand an der Türe
klopfte. Es war der Verräter, den er ins Wasser geworfen
hatte, und der ihn unter dem Scheine von Dankbarkeit hatte
aufhalten wollen. Er kam, begleitet von den Wachen des
Chalifen, ihn abzuholen. Ibrahim ward in den Audienzsaale
vorgeführt, und grüßte den Chalifen mit dem gewöhnlichen
Gruße: Heil dir, Fürst der Rechtgläubigen! Dir kein Heil, und
dir keine Verzeihung, antwortete Mamun. – Höre mich an, Fürst
der Rechtgläubigen! die Stimme der Nachsicht und Verzeihung
ist ungemein schöner und süßer, als die des Grimmes und der
Rache. Diese Worte schienen ihre Wirkung auf Mamun nicht
verfehlt zu haben.
Er versammelte seine Brüder, Ebu Ishak und Mohammed
Almoteaßem, seinen Sohn Abbas, und seine innigsten Freunde,
mit ihnen zu beratschlagen. Alle stimmten für den Tod
Ibrahims. Endlich richtete Mamun das Wort an Ahmed Ebi Chaled,
und fragte ihn um seine Meinung.
Fürst der Rechtgläubigen! sprach er, die Geschichte nennt
der Fürsten viele, die, um ihre Herrschaft zu sichern, ihre
Nebenbuhler aus dem Wege geräumt, aber wenige derer, die ihnen
verziehen. Überlege nun selbst, ob es besser ist, von der
Geschichte mit Vielen, oder mit Wenigen genannt zu werden.
Mamun senkte stillschweigend den Kopf, dann sprach er: Fürchte
nichts, mein Vetter! ich verzeihe dir. Ibrahim dankte, indem
er aus dem Stegreife ein sehr schönes Gedicht zum Lobe der
Güte und Großmut rezitierte. Ebu Ishak, und Abbas, sagte Mamun
weiter, haben mir jedoch deinen Tod geraten. – Sie rieten dir,
o Fürst der Rechtgläubigen, antwortete Ibrahim, nach der
Kleinlichkeit ihres Sinnes, du handeltest aber nach der Größe
des deinigen.
Mamun kniete nieder zu beten, und sprach zu Ibrahim: Bete
auch du, dem Herrn zu danken, dass er mir den Gedanken der
Verzeihung eingegeben.
Nach verrichtetem Gebete erzählte Ibrahim die Begebenheiten
mit dem Schwarzen, mit dem alten Diener, und der Frau. Der
Diener und die Frau, welche miteinander verstanden gewesen
waren, bekannten, dass sie nur durch die Hoffnung, ihr Glück
zu machen, zur Verräterei an ihrem alten Herrn verleitet
worden wären. Mamun ließ sie ins Gefängnis stecken, und
schlagen. Dem Schwarzen hingegen, der ein Barbier seines
Handwerkes war, verlieh er eine Kammerdienerstelle bei Hofe,
und schenkte ihm tausend Dukaten zum Lohne seiner Treue. Der
Barbier dankte für das eine und für das andere. Er verstünde
sich, meinte er, besser, Bärte zu scheeren, als den Chalifen
zu bedienen, und für die Unterkunft, die er dem Sohne Mahadi's
gegeben, habe er sich schon durch die Arien, die er ihm alle
Tage singen müssen, bezahlt gemacht.