Zweites KapitelEine linguistische Abschweifung
Wie die Mitglieder des berüchtigten Prager
Slavenkongresses (1848) nach vielen vergeblichen Versuchen,
ein slavisches Medium der Verständigung zu finden,
zuletzt sich genöthigt sahen, ihre Zuflucht zur deutschen
Sprache zu nehmen, der Sprache desselben Volkes, dessen
geistiger Ueberlegenheit jenes mittelalterliche
Fastnachtsturnier gelten sollte, – so unterhielten wir (der
Pole und ich) uns in der russischen Sprache, der
Sprache desselben Volkes, dem unsere kritischen Bemerkungen
galten.
L. hatte während seiner langen Verbannung das Deutsche und
Französische so ziemlich vergessen, und die Sprache seiner
Erbfeinde war ihm zur geläufigsten Sprache geworden; ich
meinerseits benutzte gern die Gelegenheit, das Russische,
dessen Erlernung mir so viel Mühe gemacht, einmal wieder zu
üben.
Je länger ich in fremden Ländern gelebt, desto tiefer habe
ich einsehen gelernt, daß die Eigenthümlichkeiten der Sprache
überall mit den Eigenthümlichkeiten des Volkscharakters im
genauesten Zusammenhange stehen, und daß die Kenntniß des
Einen ohne die Kenntniß des Andern immer mangelhaft bleibt.
Ein gründlicher Nachweis dieser Behauptung würde ein Buch
für sich in Anspruch nehmen; für diese kleinen Erzählungen,
welche mehr anregend als erschöpfend sein sollen, mögen wenige
Beispiele genügen.
Trotz seiner oft übertriebenen Höflichkeit hat der
Franzose, und trotz seines aristokratischen Hanges hat der
Engländer meist nur eine gemeinsame Bezeichnung für jedes der
verschiedenen Bedürfnisse des menschlichen Körpers, während
die unterthänige Ausdrucksweise des Deutschen – und noch mehr
die des Russen – genau unterscheidet zwischen Herrn und
Diener, zwischen vornehm und gering.
Es würde z. B. einem russischen Kammerdiener als ein arger
Verstoß angerechnet werden, wenn er sagte: »mein Herr
schläft«; er bedient sich dafür des Wortes »potschiwatj«,
welches ungefähr unserm deutschen »ruhen« entspricht. In
ähnlicher Weise wird das Essen, Trinken u. s. w.
als zu gemein für vornehme Leute, bildlich umgangen. Für die
genaue Bezeichnung dieser russischen Ausdrücke fehlen bei uns
die entsprechenden Wörter, doch ist der Kontrast nicht weniger
schroff als im Russischen, wenn man bei uns sagt: der
Diener ißt – der Herr speisen; der Diener schläft – der Herr
schlafen &c. –
Einer andern sprachlichen Unsitte, welche Russen und
Deutschen ausschließlich gemein ist, sei hier tadelnd
Erwähnung gethan. Ich meine die nicht genug zu rügende Unsitte
des unnützen Gebrauchs von Fremdwörtern.
Bekanntlich pflegen gerade diejenigen Leute, welche am
wenigsten von fremden Sprachen verstehen, ihre eigene Sprache
am meisten durch Fremdwörter zu verunstalten. In Bezug auf
Deutschland genügt die kurze Andeutung zu allgemeiner
Verständlichkeit; in Bezug auf Rußland hingegen dürfte die
Anführung einiger Beispiele eben so neu wie unterhaltend sein.
Ich traute oft meinen Ohren nicht, wenn ich an den Ufern
des Don oder der Wolga, im Gespräche mit Leuten, welche eine
Mittelstellung einnehmen zwischen dem Salon des Bojaren und
der Isba (Hütte) der Leibeigenen, bald deutsche, bald
französische Wörter hörte, die sich in russischer Vermummung
eben so seltsam ausnehmen, wie ein Sandalenbekleideter
russischer Bauer im Frack. Früschtikatj:
frühstücken; – wojashirowatj: reisen (voyager);
– marschirowatj: marschiren; –
buntowatsse: sich verbünden, u.s.f.
Nun denke man sich diese Wörter in russischer Weise
konjugirt! wie z. B. Ja budu früschtikatj:
ich werde frühstücken; – ja wojashirowall:
ich bin gereist . . . . .
Diese und ähnliche Ausdrücke klingen für gebildete Ohren im
Russischen eben so komisch, als wenn man bei uns von »recherchirten
Expressionen, – »malheureusen Evenements,« – »espèce
von Dings da« und dergleichen spricht.
Ein Anderes ist es mit solchen Wörtern, welche dadurch das
Bürgerrecht erlangt haben, daß sie mit den Gegenständen selbst
eingewandert sind, – oder mit solchen, für welche sich kein
entsprechender Ausdruck im Russischen findet. So hat z. B.
gegen Wörter wie: Exercirgaus: Exercirhaus;
– Schlachba-um (Schlagbaum); –
ssablja: Säbel; – Kruschtall:
Krystall; wohl der verstockteste Russe nichts einzuwenden.
In der Kosakensprache kann man aus den Volksliedern und
Annalen chronologisch nachweisen, wann gewisse Fremdwörter
ihren Weg über Polen in die Ukraine gefunden haben.
Während die Großrussen, oder Moskowiter, das ihrer Sprache
fehlende »h« regelmäßig in ein »g« umwandeln (gaus:
Haus), geht bei den Kleinrussen, oder Ukrainern, unser »w«
immer in ein »m« über. So ist z. B. aus dem deutschen Worte
»wandern« das ukrainische mandrowati
geworden. Andere Wörter finden sich fast ganz unverändert
wieder, wie: spiss: Spieß; –
papir: Papier; – rjatowati: retten;
u. s. f.
Veranlassung zu dieser linguistischen Abschweifung gab die
erste Frage, welche der Pole an mich richtete: »Wo haben Sie
russisch gelernt?« Ich warf damals in mein Tagebuch eine
Bemerkung, welche ich schon früher in Rußland häufig gemacht
hatte, über die eigenthümliche Weise, in welcher der Russe das
»lernen« ausdrückt. Er hat dafür das Wort
wuyutschitj – welches buchstäblich übersetzt »auslernen«
(vollständig lernen) bedeutet. Der Vater läßt seine Kinder
englisch, französisch, deutsch u. s. f. auslernen; der
Gymnasiast, der Seminarist lernt Geschichte, Theologie,
Philosophie u.s.w. aus.
Dieser eigenthümliche Ausdruck steht weder zufällig noch
vereinzelt da, er entspricht einer eben so eigenthümlichen
russischen Anschauungsweise von der Wissenschaft.
Ein mir früher in Moskau befreundeter russischer Fürst und
Senator wußte gar nicht, was er sagen sollte, als er erfuhr,
daß ich immer noch Geschichte studirte; auch seine Gemahlin
konnte sich nicht darüber zufrieden geben. Wozu lernt man
Geschichte, als um sein Examen zu machen? Das hatten die
Kinder des Fürsten bis zum sechszehnten Jahre abgemacht, und
somit war die Geschichte wie alles Uebrige »ausgelernt«. Was
aber denken von einem ernsten Manne, der über das erste
Vierteljahrhundert seines Lebens hinaus ist und immer noch
Geschichte studirt!
Hiernach begreift sich's, warum das russische Wort
nakasanije zugleich Strafe und
Unterricht bedeutet.
Ein hochwohlgeborner junger Russe macht seine
Unterrichts- oder Strafzeit ab, nicht um etwas zu
lernen, sondern um die erste Sprosse zu erklimmen auf der
Leiter staatlicher Ehren. Aus dem Fegfeuer der Schule gelangt
er in das Paradies des »Regierens«. –
Solche und ähnliche zwischen dem Verbannten und mir
gewechselte Bemerkungen hatten dem Gespräche eine heitere
Wendung gegeben und uns Beide in gute Laune versetzt.
»Weiß der Himmel – sagte der Pole – wie es zugeht, daß ich
jetzt lachen kann über einen Vorfall, der zu den
unglücklichsten Ereignissen meines Lebens gehört und meinem
früher schon hinlänglich schlimmen Geschicke eine noch
schlimmere Wendung gab.
»Sie wissen, daß ich nach eilfjährigem gemeinen
Soldatendienst, durch Vermittelung des Oberst G. als Lehrer an
der Kantonnistenschule zu E. angestellt wurde.
»Bot diese Thätigkeit mir auch sonst wenig Erfreuliches, so
wirkte sie doch vortheilhaft auf meine Gesundheit ein, denn
der Umgang mit der Jugend hat immer etwas Erfrischendes. Nach
und nach gewann ich meine Stellung ganz lieb. Doch es stand im
Buche des Schicksals geschrieben, daß ich nirgend eine
bleibende Stätte finden sollte.
»Kurz nachdem General S. als Chef des Unterrichtswesens für
die transkaukasischen Länder nach Tiflis geschickt wurde,
besuchte er, auf seiner ersten Inspektionsreise auch meine
Schule, und aus der hochfahrenden Weise, in welcher er mich
und meine Jungens anschnauzte, merkte ich bald, daß sein
Besuch nichts Angenehmes zur Folge haben werde.
»Ich hatte schon zuviel Schlimmes im Leben erfahren, um
über das barsche Auftreten des Generals übermäßig betroffen zu
sein, selbst die Grimassen, welche er beim Hören meines
polnischen Namens schnitt, brachten mich nicht sehr aus der
Fassung.
»Trotzdem wurde er bei jedem Worte ärgerlicher und
barscher, nach der alten Regel, daß Hitzköpfe immer toller
aufbrausen, je mehr Ruhe man ihnen entgegenstellt, und daß der
tölpelhafte Hochmuth eines Menschen immer auf gleicher Stufe
steht mit seiner Unwissenheit.
– »»Nun, was lernen denn die Jungens bei Ihnen?«« begann
der Stellvertreter des »Ministers der Volksaufklärung« sein
Examen, nachdem er mit wahrhaft bissigem Gesichte bemerkt
hatte, daß es an der Kleidung der Schüler und der Einrichtung
der Schulstube nichts zu tadeln gab.
»Ich gab auf diese altherkömmliche Frage die
altherkömmliche Antwort; er ließ mich jedoch nicht
aussprechen, sondern fiel mit wichtiger Miene ein: –
»»Russisch ist die Hauptsache! Darauf muß vor Allem gesehen
werden! Bringt mir einem Jungen ordentlich russisch bei, dann
lernt sich alles Uebrige von selbst!«« –
»Ich durfte dem natürlich nicht widersprechen, und
entgegnete, daß ich es an nichts fehlen ließe, um den Jungens
ordentlich russisch beizubringen . . . . .
– »»Das wollen wir sehen!«« – rief der General – »»zeigen
Sie mir einmal Ihren besten Schüler!«« –
»Ich that wie mir geheißen; aber leider war mein bester
Schüler kein Russe, sondern ein Armenier, Namens Akimijan.«
»Dieser zufällige Umstand gab dem General einen erwünschten
Anlaß, sich in eine Flut von Schimpfwörtern darüber zu
ergießen, daß ich die Russen zurücksetze und die
Vertreter der unterworfenen Völkerschaften bevorzuge.
»Sie können leicht denken, daß das Benehmen des
stellvertretenden »Ministers der Volksaufklärung« eben nicht
ermuthigend auf die armen Schüler einwirkte.
»Zitternd und schüchtern trat Akimijan vor.
– »»Nun, lassen Sie ihn einmal was an die Tafel
schreiben!«« – herrschte mich Se. Excellenz an.
»Akimijan nahm auf mein Zureden die Kreide und schrieb:
»Das Auge ist ein Glied des menschlichen Körpers.« –
»Der Satz war richtig geschrieben; es ließ sich nichts
dagegen einwenden.
– »»Na, nun machen Sie weiter!«« – bedeutete mich Se.
Excellenz.
»Was ist oko (das Auge) für ein Wort?«
fragte ich den Schüler.
– »Ein Hauptwort!« – schluchzte der arme Junge.
»Richtig, mein Sohn! sei nicht so furchtsam! Se. Excellenz
(zu russisch: Jewo Wuyssokoprewosschoditelstwo)
thun Dir nichts zu Leide. Nun sage mir: welchen Geschlechtes
ist oko?« –
– »Sächlichen Geschlechtes!»–
»Ganz richtig! nun . . . . .
– »»Was? ganz richtig? Sächlichen Geschlechtes?
Sslawnuij schtuk! Schöne Geschichten!««
unterbrach uns heftig der General. »»Was bringen Sie den
Jungen da für Unsinn bei? Das Auge sächlichen
Geschlechtes? . . . . Hab' ich nicht so gut Augen wie
meine Frau? Ist das Auge nicht so gut männlich wie
weiblich? Woher ist das Auge sächlichen
Geschlechts?«« –
Die Augen des stellvertretenden »Ministers der
Volksaufklärung« verfinsterten sich auf die bedenklichste
Weise, und es ergoß sich über mich wieder eine Flut von
Schimpfwörtern, wie sie nur dem Munde eines Russen dieses
Schlages entströmen kann.
»Das Ende der Geschichte war, daß ich von der Schulstube
aus wieder in Reih' und Glied treten mußte. Es wurde auf das
Unumstößlichste nachgewiesen, daß ich die Köpfe der jungen
Leute verwirre und zu nichts anderem als zum Felddienst zu
gebrauchen sei.«
Der deutsche Erzähler muß hier ergänzend hinzufügen, daß
russische Generäle und Volksaufklärer dieser Art allerdings
noch vorhanden sind, daß ihre Zahl aber sich von Tage zu Tage
vermindert.
Unter den russischen Linienoffizieren, niederen und
mittleren Ranges, ist freilich im Durchschnitt Bildung eben so
selten wie Redlichkeit unter den Beamten; die große Mehrzahl
der russischen Stabsoffiziere hingegen steht weder in Bildung
noch in geselligen Formen den Stabsoffizieren anderer Länder
nach.