Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Auf der islamischen Ebene

Als die islamische Welt begann, sich dem Lebensstil des europäischen Menschen zu öffnen und sich seiner geistigen Führung und dem Vorbild seines Weges der Zivilisation zu unterwerfen, anstatt an ihr ureigenstes Einladungspotential und ihre Beständigkeit für das menschliche Leben zu glauben, begann sie ihre Rolle im Leben gemäß dem traditionellen Einteilungsschema zu verstehen, das der europäische Mensch entworfen hatte, als er die Welt entsprechend dem Wirtschaftlichen in fortgeschrittene und arme oder wirtschaftlich unterentwickelte Länder unterteilte. Dabei gehörten alle islamischen Länder zur zweiten Kategorie, die nach der europäischen Logik den Führungsauftrag der fortgeschrittenen Länder anerkennen und diesen ermöglichen müssten, sie mit ihrer Geisteshaltung zu beseelen und ihnen den Weg zu höherer Entwicklung vorzuzeichnen. So begann die islamische Welt ihr Leben mit der westlichen Zivilisation als eine Anzahl von wirtschaftlich armen Ländern, und sie empfand als ihr Hauptproblem die wirtschaftliche Rückständigkeit verglichen mit dem Standard der fortgeschrittenen Länder, denen ihr wirtschaftlicher Vorsprung die Welthegemonie ermöglicht hatte; und jene fortgeschrittenen Länder machten der islamischen Welt weis, die einzige Methode, dieses Problem zu überwinden und den Anschluss an die “vorangeschrittene Karawane“ zu gewinnen, sei die Lebensweise des Europäers als maßgebliches Vorbild zu akzeptieren und die Linien seiner Praxis nachzuzeichnen, um eine vollkommene und umfassende Volkswirtschaft aufzubauen, die in der Lage wäre, die zurückgebliebenen islamischen Länder auf den Standard der europäischen Völker der Gegenwart anzuheben.

In der islamischen Welt verlief die Unterordnung und die Ausrichtung nach dem Vorbild des Europäers, der sich anmaßte, die moderne Zivilisation schlechthin zu verkörpern, in drei zeitlich aufeinander folgenden Phasen ab, und alle drei Phasen sind in verschiedenen Teilen der islamischen Welt noch gegenwärtig.

·       Erstens: Die politische Unterordnung, dergestalt, dass wirtschaftlich hoch entwickelte europäische Völker zurückgebliebene Völker direkt beherrschen.

·       Zweitens: Die wirtschaftliche Abhängigkeit, die Hand in Hand geht mit der Errichtung politisch selbstständiger Regierungsgebilde in den unterentwickelten Ländern, und sich darin manifestiert, dass der europäischen Wirtschaft ermöglicht wird, auf verschiedene Weise in diesen Ländern tätig zu werden und ihre Rohstoffe auszubeuten, mit ihrem Kapital in Freiräume einzudringen und eine Anzahl von Produkten des wirtschaftlichen Bedarfs zu monopolisieren, unter dem Vorwand, die Bevölkerung der unentwickelten Länder für die Aufgabe der Entwicklung ihrer Länder zu schulen.

·       Drittens: Die methodische Abhängigkeit, die von vielen Experimenten innerhalb der islamischen Welt praktiziert wird, bemüht sich um politische Unabhängigkeit und Befreiung von europäischer wirtschaftlicher Vorherrschaft und beginnt bei der Entwicklung ihrer Wirtschaft und der Überwindung der Rückständigkeit daran zu denken, auf ihre eigene Kraft zu vertrauen, ist jedoch nicht in der Lage, über den Schatten ihrer europäisch geprägten Erkenntnis zu springen, wenn sie die Natur des Problems der wirtschaftlichen Unterentwicklung analysiert. So sieht sie sich veranlasst, den gleichen Kurs einzuschlagen, den der Europäer beim Aufbau des eindrucksvollen Gebäudes seiner modernen Wirtschaft verfolgte.

Trotz der großen theoretischen Unterschiede, die sich unter den einzelnen Experimenten bei der Formulierung und Praktizierung ihrer Programme herausbilden – es handelte sich stets nur um Meinungsverschiedenheiten, welche allgemeine Form des Programms aus den zahlreichen europäischen Vorbildern ausgewählt werden sollte – war man sich einig, irgendeines der Programme, die sich auf die Erfahrung des modernen Europäers stützten, zu übernehmen. Das war der Preis für das intellektuelle Vertrauen in die westliche Zivilisation. Meinungsverschiedenheiten bestanden nur hinsichtlich der Festlegung auf eine ihrer Formen.

Die gegenwärtigen[1] Experimente des wirtschaftlichen Aufbaus in der islamischen Welt haben im allgemeinen eine von zwei Formen der Wirtschaftsordnung in der westlichen Zivilisation zum Vorbild, nämlich entweder die freie Wirtschaft auf kapitalistischer Grundlage oder die Planwirtschaft auf sozialistischer Basis. Mit beiden Formen sind umfangreiche Erfahrungen beim Aufbau der modernen europäischen Zivilisation gemacht worden, und die Diskussion über ihre Praktizierung in der islamischen Welt dreht sich meistens um die Frage: Welches der beiden Vorbilder ist lohnender zu verfolgen und erfolgversprechender beim Kampf der Umma gegen ihre Rückständigkeit und beim Aufbau einer hochentwickelten Wirtschaft entsprechend den Erfordernissen der Gegenwart? Die Tendenz zur Übernahme des ersteren Weges, nämlich der freien Wirtschaft auf kapitalistischer Grundlage als Modell der Entwicklung und innerstaatlicher Wirtschaftsordnung ist in der islamischen Welt die ältere, weil das kapitalistische Lager der europäischen Wirtschaft schneller Einfluss in der islamischen Welt gewonnen und dort Machtzentren aufgebaut hatte.

Während des politischen Kampfes der Umma gegen den Kolonialismus und während der Befreiungsbestrebungen vom Einfluss der kapitalistischen Metropolen entdeckten einige der Führer dieser Experimente, dass das europäische Gegengewicht zum kapitalistischen Lager das sozialistische Lager ist. So entstand eine andere Tendenz, die zur Wahl des zweiten Entwicklungsweges neigte, nämlich der Planwirtschaft auf sozialistischer Grundlage, weil man zwar weiterhin an den Europäer als Vorbild für die unterentwickelten Länder glaubte, sich anderseits aber mit der politischen Verkörperung des Kapitalismus im Kampf befand. Solange die wirtschaftliche Abhängigkeit der unterentwickelten von den entwickelten Ländern fortbestand blieb ihnen der Glaube an die Überlegenheit des europäischen Modells aufgezwungen, und da die Orientierung am kapitalistischen Flügel dieses Modells sich nicht mit den Emotionen des Kampfes gegen die erlebte imperialistische Realität vereinbaren ließ, übernahm man die sozialistische Planwirtschaft als andere Form des überlegenen Vorbildes.

Beide Tendenzen haben Argumente, mit denen sie ihre Ansichten rechtfertigen. Die eine Richtung führt in der Regel den enormen Fortschritt an, den die kapitalistischen europäischen Staaten erreicht haben, und die Standards der Produktion und industriellen Fertigung, die durch die Verfolgung des kapitalistischen Entwicklungsweges erzielt wurden. Sie behaupten weiterhin, dass die unterentwickelten Länder den Weg abkürzen und in kürzerer Zeit den Sprung zum gewünschten wirtschaftlichen Entwicklungsstand schaffen können, wenn sie die gleichen Methoden praktizieren, weil sie von den Erfahrungen der kapitalistischen Experimente der Europäer profitieren und alle vervollkommneten wissenschaftlichen Hilfsmittel benutzen können, die zu erhalten den Europäer Jahrhunderte kostete.

Die zweite Richtung erklärt ihre Entscheidung für die Planwirtschaft auf sozialistischer Grundlage anstelle der freien Wirtschaft damit, dass die freie Wirtschaft (der Liberalismus) zwar den die kapitalistische Welt anführenden europäischen Staaten große Gewinne, kontinuierlichen Fortschritt in der Technik und Produktion und eine Anhäufung von Reichtum innerhalb des eigenen Landes gewährleisten konnte, aber keine vergleichbare Rolle in den heutigen unterentwickelten Ländern spielen könnte, weil diese heute mit einer übermächtigen Herausforderung in Gestalt des gewaltigen Fortschritts, den die westlichen Länder erreicht haben, konfrontiert und auf der wirtschaftlichen Ebene einem mörderischen, schrankenlosen Wettbewerb ausgesetzt sind, während die gegenwärtig hochentwickelten Staaten dieser schrecklichen Herausforderung und diesen Möglichkeiten der Konkurrenz nicht ausgesetzt waren, als sie ihren wirtschaftlichen Entwicklungsprozess einleiteten und den Kampf gegen die Zustände der Rückständigkeit aufnahmen, wobei sie sich den wirtschaftlichen Liberalismus als Weg und Methode erwählten. Daher müssten heute die unterentwickelten Länder unbedingt gleichzeitig alle Kräfte und Potentiale auf schnelle und geordnete Weise für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess mobilisieren, und zwar mittels der Planwirtschaft auf sozialistischer Grundlage. Wenn sie ihre Misserfolge in der Praxis erklärt, beruft sich jede der beiden Richtungen auf die unnatürlichen Zustände, welche die Imperialisten in der Region geschaffen haben, um dort den Entwicklungsprozess zu behindern. So erlauben sie es sich selbst nicht, wenn sie ihr Scheitern fühlen, über irgendeine Alternative zu den beiden traditionellen Wegen, die das europäische Vorbild in West und Ost eingeschlagen hat, nachzudenken, obwohl eine fertige Alternative immer noch in der Umma theoretisch und ideologisch lebendig ist, mag sie auch aus der Praxis verdrängt sein, und zwar der islamische Weg und die im Islam implizierte Wirtschaftsordnung.

Ich möchte hier die islamische Wirtschaft und die kapitalistische bzw. sozialistische Wirtschaft nicht in wirtschaftstheoretischer und ideologischer Hinsicht vergleichen. Das überlasse ich dem Buch selbst, denn das Buch “Unsere Wirtschaft [iqtisaduna]“ leistet in dieser Angelegenheit eine vergleichende Studie. Vielmehr möchte ich die europäische Wirtschaft in ihren beiden Formen – kapitalistisch und sozialistisch – mit der islamischen Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt vergleichen, welche wirkungsvoller den Kampf der islamischen Welt gegen die wirtschaftliche Rückständigkeit unterstützen kann und welche sich besser als Rahmen für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess eignet. Wenn wir den Bereich des Vergleichs des intellektuellen und ideologischen Inhalts dieser Wirtschaftslehren verlassen und stattdessen ihre praktische Eignung als Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklung vergleichen, dürfen wir uns nicht auf eine Gegenüberstellung ihres jeweiligen theoretischen Gehaltes beschränken. Vielmehr müssen wir mit Sorgfalt die objektiven Lebensbedingungen der Umma und ihre psychologische und geschichtlich gewachsene Struktur berücksichtigen, denn die Umma ist das Anwendungsgebiet dieser Lehren. Deshalb ist es notwendig, dass der Raum, in dem die Theorie erprobt werden soll, und seine Besonderheiten und Voraussetzungen sorgfältig studiert werden, um abzuwägen, wie effektiv jede Theorie in der Praxis sein würde. Die Effektivität der liberal-kapitalistischen Wirtschaft oder der sozialistischen Planwirtschaft beim europäischen Vorbild bedeutet nicht automatisch, dass diese Effektivität nur der jeweiligen wirtschaftlichen Methode zu verdanken wäre, so dass sie erzielt werden könnte, wann immer der gleiche Weg eingeschlagen würde. Vielmehr könnte ihre Effektivität darauf beruhen, dass die Methode jeweils Teil eines Ganzen, verbunden mit einer gesellschaftlichen Tradition, ist; und wenn die Methode von ihrem Rahmen und ihrer Geschichte getrennt wird, zeigt sie vielleicht nicht diese Effektivität und diese Erfolge.

Bei einer vergleichenden Studie der verschiedenen Wirtschaftslehren und ihrer praktischen Erfolgsaussichten in der islamischen Welt muss eine grundsätzliche Tatsache klargestellt werden, die für die Beurteilung des Standpunktes von hoher Relevanz ist, nämlich dass für die wirtschaftliche Entwicklung ein wirtschaftliches Lehrgebäude nicht nur als irgendein Rahmen der Gesellschaftsordnung nötig ist, den die Regierung übernimmt, so dass die Entwicklung diesem oder jenem angepasst werden kann, wenn sich die Regierung ihn zu eigen macht und durchsetzt, sondern dass die wirtschaftliche Entwicklung und der Kampf gegen die Rückständigkeit nur dann die gewünschten Erfolge erzielen können, wenn sie in einem Rahmen ablaufen, in den sich die Umma einfügen und mit dessen Prinzipien sie übereinstimmen kann. Denn die Mobilisierung der gesamten Umma ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen jedweder Entwicklung und jedes umfassenden Kampfes gegen die Rückständigkeit, weil sich in dieser Mobilisierung ihre innere Reifung, ihre wachsende Willenstärke und die Entfaltung ihrer Begabungen manifestiert; und wenn die Umma selbst nicht reift, kann sie keinen wirtschaftlichen Entwicklungsprozess gestalten. Die Entwicklung des äußeren materiellen Reichtums muss Hand in Hand gehen mit der inneren Reifung der Umma.

Das Beispiel des modernen Europäers ist selbst ein deutlicher geschichtlicher Beleg dieser Tatsache. Denn die europäischen Wirtschaftskonzepte als Rahmen für den Entwicklungsprozess erzielten ihre eindrucksvollen materiellen Erfolge in der modernen europäischen Geschichte nur, weil die europäischen Völker in allen Lebensbereichen mit diesen Konzepten übereinstimmten, da diese auf ihre Erwartungen abgestimmt waren, und weil sie während einer langen geschichtlichen Periode auf diese Anpassung und Übereinstimmung vorbereitet worden waren. Wenn wir also ein Konzept oder einen allgemeinen Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung in der islamischen Welt auswählen wollen, müssen wir von dieser Tatsache ausgehen und in ihrem Licht nach einem Zivilisationsmodell suchen, das in der Lage ist, die Umma in Bewegung zu versetzen und alle ihre Kräfte und Fähigkeiten zum Kampf gegen die Rückständigkeit zu mobilisieren. Und es ist notwendig, die Gefühle der Umma, ihre Mentalität, ihre Geschichte und ihre verschiedenen komplizierten Probleme zu berücksichtigen. Ein Fehler, den viele Wirtschaftsexperten begehen, die die Wirtschaft der unterentwickelten Länder studieren und europäische Entwicklungskonzepte auf diese übertragen, ist, dass sie nicht abwägen, inwieweit die Völker der betreffenden Länder mit diesen übereinstimmen können, und in welchem Maße diese Konzepte auf die Bedürfnisse des jeweiligen Volkes [umma] zugeschnitten sind. Da gibt es z.B. besondere Vorbehalte, die in der islamischen Welt gegenüber dem Kolonialismus (Imperialismus) lebendig geblieben sind, in Form von Misstrauen, Ressentiments und Angst, als Folge einer langen und bitteren geschichtlichen Erfahrung der Ausbeutung und des Kampfes. Diese Gefühle haben bei der Umma eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den organisatorischen Errungenschaften der Europäer und einiges Misstrauen gegenüber den Organisationsformen, auch wenn sie nützlich sein mögen und politisch vielleicht nichts mit dem Imperialismus zu tun haben, bewirkt, um die Fähigkeiten der Umma zu entfalten und sie bei der Kampagne des konstruktiven Aufbaus zu führen. Deshalb machen es die psychologische Lage der islamischen Welt, die das Zeitalter des Imperialismus geschaffen hat, und ihr Misstrauen gegenüber allem, was mit diesem in Zusammenhang steht, notwendig, dass ihre moderne Wiederbelebung auf der Grundlage einer Gesellschaftsordnung und mit kulturellen Merkmalen aufbaut, die keinerlei Verbindung zu den imperialistischen Ländern haben.

Diese offensichtliche Tatsache führte eine Anzahl von politischen Gruppierungen in der islamischen Welt dazu, sich den Nationalismus als Philosophie, Zivilisationsmodell und Grundlage der Gesellschaftsordnung zu eigen zu machen, in der Hoffnung, dieser könnte ihnen Parolen liefern, die mit der imperialistischen Gedankenwelt nichts zu tun hätten. Der Nationalismus ist jedoch nichts weiter als eine Betonung der Gemeinsamkeit von Geschichte und Sprache, keine Philosophie mit eigenen Prinzipien und keine Doktrin mit eigenen Grundlagen, sondern seiner Natur nach indifferent gegenüber den verschiedenen Philosophien und gesellschaftlichen, Weltanschauung und besonderen Philosophie, auf deren Grundlage er seine Zivilisation, seine Dynamik und seine Gesellschaftsordnung gestalten kann. Es scheint, als ob viele nationale (nationalistische) Bewegungen das auch gespürt haben und erkannten, dass der Nationalismus als “Rohmaterial“ zusätzlich einer bestimmten gesellschaftlichen Philosophie und Ordnung bedarf, und sie bemühten sich, dies angestrebten Emanzipation von den Europäern in Einklang zu bringen; so riefen sie den “arabischen Sozialismus“ aus.

Sie propagierten den Sozialismus, weil sie einsahen, dass Nationalismus allein nicht ausreicht, sondern einer Gesellschaftsordnung bedarf, und sie propagierten ihn im arabischen Gewand mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Umma gegen jede Art von Parolen oder Philosophen, die mit der imperialistischen Welt assoziiert wurden. Indem sie den Sozialismus als “arabisch“ präsentierten, versuchten sie, seinen geschichtlichen und geistig fremden Charakter zu verschleiern, ein vergebliches Unterfangen, durch das sich die Umma nicht täuschen ließ. Denn dieser wackelige Rahmen ist lediglich eine äußerliche und formale Verdrehung des fremden Gehaltes, den der Sozialismus verkörpert. Wäre dem nicht so, welche Rolle spielt dann dieser arabische Rahmen in der sozialistischen Gesellschaftsordnung, in welcher Hinsicht hat der “arabische Faktor“ die sozialistischen Standpunkte modifiziert, und was ist damit gemeint, das Arabertum als Sprache und die Geschichte oder Blut und Rasse hätte eine bestimmte Philosophie der Gesellschaftsordnung entwickelt? Nein, alles was sich in der Praxis als Wirkung des “arabischen Faktors“ herausstellt, ist, dass er einiges vom Sozialismus nicht übernimmt, wenn es im Gegensatz zu den in der arabischen Gesellschaft herrschenden Traditionen steht, welche zu ändern die objektiven Bedingungen nicht günstig sind, etwa spirituelle Neigungen wie den Glauben an Allah. So gibt der arabische Rahmen dem Sozialismus keinen neuen Geist, der ihn in seinem weltanschaulichen Charakter, wie wir ihn in den Ländern der Imperialisten erleben, verändern würde; vielmehr beinhaltet er nur bestimmte Ausnahmen, welche die wahren Kernaussagen des Sozialismus möglicherweise gar nicht berühren. Es ist den Propagandisten des “arabischen Sozialismus“ auch nicht möglich, die prinzipiellen Unterschiede zwischen dem arabischen und dem persischen oder türkischen Sozialismus zu definieren, oder zu erklären, wieso sich der Sozialismus verändern soll, nur weil man ihn in diesem oder jenem nationalen Rahmen stellt, denn in Wirklichkeit verändern sich sein Gehalt und Kern nicht, der jeweilige Rahmen manifestiert sich lediglich in Ausnahmen von den sozialistischen Prinzipien, die von Volk zu Volk verschieden sein können, je nach den im jeweiligen Volk vorherrschenden Traditionen.

Obwohl es den Propagandisten des “arabischen Sozialismus“ nicht gelungen ist, diesem Sozialismus einen tatsächlichen neuen Inhalt zu geben, indem sie ihn mit einem arabischen Rahmen präsentierten, belegen sie doch durch ihr Verhalten die Tatsache, auf die wir hinwiesen, nämlich dass die Umma, die durch das Zeitalter des Imperialismus sensibilisiert worden ist, ihren gegenwärtigen Wiederaufstieg nur auf der Grundlage eines eigenständigen Weges, den sie nicht mit den Ländern der Imperialisten assoziiert, verwirklichen kann.

Hier zeigt sich ein großer Unterschied zwischen den europäischen Wirtschaftsmodellen, die im Bewusstsein der Umma stets mit dem Menschen des imperialistischen Kontinents identifiziert werden, in welcher Art man sie auch präsentiert, und dem islamischen Modell, das im Bewusstsein der Umma mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer großen Zeit assoziiert wird, das ihre Originalität dokumentiert, und das keinerlei imperialistisches Etikett trägt. So stellen die Gefühle der Umma, dass der Islam ihre ureigenste Ausdrucksform, das Charakteristikum ihrer geschichtlichen Identität und der Schlüssel zum Ruhm vergangener Zeiten ist, einen sehr bedeutenden Faktor dar, um den Kampf gegen die Rückständigkeit und für die Entwicklung zum Erfolg zu führen, wenn man auf das islamische Modell zurückgreift und vom Rahmen der islamischen Ordnung ausgeht.

Abgesehen von den problematischen Vorbehalten, die in der islamischen Umma gegenüber dem Imperialismus und allen Modellen, die mit den imperialistischen Ländern in Verbindung gebracht werden, existieren, gibt es eine weitere Komplikation, die den modernen europäischen Wirtschaftsmodellen große Schwierigkeiten in den Weg legt, wenn sie in der islamischen Welt praktiziert werden, nämlich die Unvereinbarkeit dieser Modelle mit dem religiösen Glauben der Muslime. Ich möchte hier nicht diesen Widerspruch in der Form erörtern, dass ich den religiösen Standpunkt mit der Sichtweise der europäischen Modelle vergleiche, und mich bemühe, die Vorzüge des ersteren herauszustellen – d.h. ich will diesen Widerspruch nicht religiös-weltanschaulich diskutieren – vielmehr geht es mir darum, darzustellen, inwiefern die europäischen Modelle sich mit dem religiösen Glauben des muslimischen Menschen, in seiner Eigenschaft als eine in der islamischen Welt wirksame Kraft, nicht vereinbaren lassen, ohne sie irgendwie zu werten. Mögen wir diese Kraft in der islamischen Welt auch als noch so verfallen und desintegriert durch die Aktionen des Imperialismus gegen sie einschätzen, sie ist immer noch sehr wirksam, indem sie das Verhalten prägt, die Gefühle beeinflusst und das Weltbild formt. Und wir haben gerade erläutert, dass die wirtschaftliche Entwicklung nicht lediglich ein Prozess ist, den die Regierung (der Staat) erzielt, indem er sich ein Modell zu eigen macht, plant und ausführt, sondern ein Prozess, an dem die gesamte Umma in der einen oder anderen Form teilhaben muss. Wenn also die Umma den Widerspruch zwischen dem aufgezwungenen Entwicklungskonzept und ihrem religiösen Glauben, auf den sie immer noch stolz ist, empfindet, wird sie sich, je nach dem, wie stark sie durch diesen Glauben geprägt ist, der aktiven Beteiligung am Entwicklungsprozess und der Einfügung in den aufgezwungenen Rahmen entziehen. Dagegen ist die islamische Gesellschaftsordnung nicht mit diesem Problem konfrontiert und leidet nicht an dieser Art von Widersprüchlichkeit, sondern wenn sie in die Praxis umgesetzt wird, wird sie im religiösen Glauben eine große Stütze und einen hilfreichen Faktor finden, um die in ihrem Rahmen vorgesehene Entwicklung gelingen zu lassen. Denn die Grundlage der islamischen Ordnung bilden die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia][2], und die Muslime glauben im allgemeinen an die Heiligkeit und Unverletzlichkeit dieser Bestimmungen und an die Pflicht, sie zu befolgen, aufgrund ihrer islamischen Religion und ihrer Überzeugung, dass der Islam eine Religion ist, die vom Himmel dem Siegel der Propheten, Muhammad (s.), herabgesandt wurde. Und es besteht kein Zweifel, dass zu den wichtigsten Faktoren, die irgendwelche Konzepten der Gesellschaftsordnung zum Erfolg verhelfen, ihre Anerkennung durch die Menschen, und deren Glauben an die Rechtmäßigkeit ihrer Durchsetzung gehören. Selbst vorausgesetzt, ein Versuch der wirtschaftlichen Entwicklung nach europäischem Muster könnte das religiöse Problem und seinen diesem Modell entgegenwirkenden Effekt überwinden, so wäre damit noch nicht das Hindernis des geistigen Überbaus beseitigt, der durch diesen religiösen Glauben in einer vierzehn Jahrhunderte langen Geschichte entstanden ist und die psychologische und geistige Konstitution des Menschen in der islamischen Welt in hohem Maße geprägt hat. Ebenso wenig wäre die Überwindung des religiösen Problems gleichbedeutend mit der Schaffung einer “europäischen“ Grundlage für diese Modelle, die der Europäer erfolgreich anwenden konnte, weil er günstige Voraussetzungen vorfand, die sich in das Konzept einfügen ließen.

Es gibt in der Tat eine islamische Ethik, die in der islamischen Welt mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden ist, und es gibt eine europäische Wirtschaftsethik, welche die moderne westliche Zivilisation prägte, sich mit deren Geist im Einklang befindet und deren Erfolg auf wirtschaftlicher Ebene den Weg bereitete. Die beiden Ethiken unterscheiden sich substanziell in ihrem Weltbild und ihren Wertemaßstäben, und in dem Maße, wie die Ethik des modernen westlichen Menschen die europäischen Wirtschaftskonzepte begünstigt, steht die Ethik des Menschen der islamischen Welt im Widerspruch zu ihnen; und diese Ethik ist fest verankert und lässt sich nicht mitsamt ihren Wurzeln beseitigen, nur indem der religiöse Glaube verwässert wird. Die Planung – d.h. die Planung des Kampfes gegen die Unterentwicklung – muss, ebenso wie sie einkalkuliert, in welche Maße sich die Natur der produktiven Nutzung widersetzt, den menschlichen Faktor und seinen Widerstand gegen, bzw. seine Einfügung in diesen oder jenen Plan berücksichtigen.

Der Europäer richtet seinen Blick immer auf die diesseitige Erde und nicht zum Himmel, und selbst das Christentum als die Religion, an die er Hunderte von Jahren geglaubt hat, vermochte diese Diesseitsbezogenheit des Europäers nicht zu überwinden, im Gegenteil, anstatt dass das Christentum seine Blicke zum Himmel erhoben hätte, gelang es dem Europäer, die christliche Gottheit auf die Erde herunter zu holen und sie als irdisches Wesen zu verkörpern. Die wissenschaftlichen Anstrengungen, die menschliche Herkunft aus den Spezies des Tierreichs zu erforschen, die Definierung des Menschseins nach dem Kriterium der Gestaltung der natürlichen Umwelt, oder die wissenschaftlichen Bemühungen, die ganze Erhabenheit des Menschentums auf der Grundlage der Produktivkraft der Erde herabzuholen, und ethisch steht es im Zusammenhang mit der tief verwurzelten Diesseitsbezogenheit des Europäers, mögen sich diese Bemühungen auch in ihrem Stil und in ihrer wissenschaftlichen oder literarischen Prägung unterscheiden.

Dieses Weltbild führte den Europäer dazu, der Materie, dem Reichtum und dem Besitz Werte beizumessen, die sich mit einer derartigen Sichtweise im Einklang befinden. Diese Wertemaßstäbe, die sich im Laufe der Zeit im Bewusstsein des Europäers verfestigten, konnten sich in Ideologien des Lebensgenusses und des Profits verkörpern, die das philosophische Denken in Europa überschwemmten. Als Produkte europäischen Denkens konnten sie auf intellektueller Ebene großen Erfolg verbuchen, der aufschlussreich für die Psychologie und den Charakter des Europäers ist. Die besonderen Werte, die der Materie, dem Reichtum und dem Besitz beigemessen wurden, spielten eine große Rolle bei der Freisetzung der in jedem Individuum der Gesellschaft [al-umma] vorhandenen Leistungsfähigkeit und bei der Definition von Zielen des Entwicklungsprozesses, die mit diesen Wertvorstellungen übereinstimmten. So entstand mit dem Aufstieg der modernen europäischen Wirtschaft in allen Teilen der Gesellschaft eifrige und lebhafte Aktivität, die weder Überdruss noch Sättigung an materiellen Gütern, bzw. am Besitz dieser Güter kannte. So verdrängte auch die Tatsache, dass der Europäer seine wirkliche Verbindung zu Allah, dem Erhabenen, abschnitt und seinen Blick zur diesseitigen Welt anstatt zum Himmel richtete, aus seinem Bewusstsein jede wahre Vorstellung von einer erhabenen Aufsicht von höherer Warte, oder von Grenzen, die ihm von außerhalb seines eigenen Bereiches gesetzt wären. Das bereitete ihn psychologisch und geistig darauf vor, an sein Recht auf unbedingte Freiheit zu glauben und sich in einen wahren Strudel von Gefühlen persönlicher Ungebundenheit zu stürzen, was er später in die philosophische Sprache umsetzen konnte, bzw. es manifestierte sich auf philosophischer Ebene in einer der bedeutendsten Philosophien der modernen Geschichte Europas, dem Existenzialismus, der die Gefühle, die den modernen Europäer beherrschen, mit einer philosophischen Form krönt, und in dem er seine Hoffnungen und Gefühle widergespiegelt findet.

Das Prinzip der Freiheit spielte eine Hauptrolle in der europäischen Wirtschaft und machte es möglich, dass der Entwicklungsprozess von den beim europäischen Menschen festverwurzelten Gefühlen der Freiheit und individuellen Unabhängigkeit profitierte und den wirtschaftlichen Liberalismus als einen Weg, der mit den psychologischen Neigungen und der Gedankenwelt der europäischen Völker harmonierte, zum Erfolg führte; und selbst als die europäische Wirtschaftstheorie den sozialistischen Weg entwarf, bemühte sie sich ebenfalls, von den Motiven des Individualismus und Egoismus auszugehen, auch wenn sie den Individualismus der Person zum Individualismus einer Klasse modifizierte.

Wir alle wissen, dass das tiefempfundene Gefühl von Freiheit eine Grundbedingung für eine Vielzahl von Aktivitäten darstellte, die am Entwicklungsprozess Anteil hatten, und zwar durch die Auslöschung des Gefühls moralischer Verantwortung, ohne die solche Aktivitäten nicht möglich gewesen wären. Und es war gerade die Idee der Freiheit, die den Europäer für das Prinzip des Konkurrenzkampfes empfänglich macht, weil sie es jedem Menschen nahelegte, sich zu entfalten, ohne dass ihm irgendetwas Grenzen setzt außer der Existenz anderer Personen, deren Rechte seinen Zielen entgegenstehen, so dass jedes Individuum durch seine Existenz die Gegenthese der Freiheit des anderen bildet. So bildete sich der Gedanke des Konkurrenzkampfes im Bewusstsein des Europäers heraus, und er artikulierte sich auf der philosophischen Ebene, wie wir es auch bei anderen Grundmotiven, die den Charakter der modernen westlichen Zivilisation formten, gesehen haben. Dieses Motiv äußerte sich in den wissenschaftlichen und philosophischen Reflektionen über den Kampf ums Überleben als Naturgesetz unter den lebenden Wesen, oder über die Unvermeidlichkeit des Klassenkampfes innerhalb der Gesellschaft, oder über die Dialektik, d.h. die Deutung alles Existierenden nach dem Prinzip der These und Antithese und der aus dem Kampf dieser Grundsätze resultierenden Synthese. Alle diese Tendenzen philosophischer oder wissenschaftlicher Natur sind vor allem Ausdruck der allgemeinen psychologischen Konstitutionen des Menschen der modernen Zivilisation und seines ausgeprägten Gefühls des Konkurrenzkampfes. Der Konkurrenzkampf hatte großen Einfluss auf die Ausrichtung der modernen europäischen Wirtschaft und der Entwicklungsprozesse, die sie begleiteten, ob in seiner individuellen Gestalt, die durch den hektischen und schrankenlosen Wettbewerb zwischen den privat-kapitalistischen Gesellschaften und Unternehmen gekennzeichnet ist, im Rahmen der liberalen Wirtschaft, unter deren Bedingungen des Konkurrenzkampfes um das wirtschaftliche Überleben der gesamtgesellschaftliche Reichtum wuchs und sich entwickelte, oder in Gestalt des Klassenkampfes, indem sich revolutionäre Massen der Produktionsmittel eines Landes bemächtigten und alle Potentiale zugunsten der wirtschaftlichen Entwicklung mobilisierten. Die ist die europäische Wirtschaftsethik, und auf diesem Fundament konnte die europäische Wirtschaft mit ihrer Dynamik ansetzen, ihr Wachstum erzielen und ihre enormen Erfolge verbuchen. Und diese Ethik unterscheidet sich von derjenigen, die unter den Völkern der islamischen Welt als Ereignis ihrer religiösen Geschichte lebendig ist.

Der orientalische Mensch, den die göttliche Botschaft geformt hat und in dessen Ländern sie sich verwirklichte, und der eine lange Periode der religiösen Erziehung durch den Islam durchlief, blickt seiner Natur nach eher zum Himmel als zur diesseitigen Erde und lässt sich eher durch die Welt des Verborgenen faszinieren, als von der Materie und dem Sichtbaren. Seine tiefe Faszination für die Welt des Verborgenen anstelle der sichtbaren Welt manifestiert sich auf geistiger Ebene im Leben des Muslim in der Tendenz zur Reflektion in der geistigen (spirituellen) Sphäre der menschlichen Erkenntnis anstelle der Bereiche, die mit der sichtbaren Realität zu tun haben, welche in der islamischen Welt zu beobachten ist. Dieser tiefe Sinn für das Verborgene im Charakter des muslimischen Menschen schränkte die Fähigkeit der materiellen Welt, ihn zu begeistern und zu motivieren, ein, was ihn später, als er die spirituelle Motivation verlor, sich in die materielle Welt einzufügen und aus ihr Nutzen zu ziehen, zu einer negativen Haltung ihr gegenüber tendieren ließ, welche die Form von Askese oder Selbstgenügsamkeit oder auch Trägheit annehmen konnte. Sein Sinn für das Verborgene gewöhnte ihn daran, das Vorhandensein einer unsichtbaren Aufsicht über seine Handlungen zu empfinden, was sich bei dem frommen Muslim als Bewusstsein einer klaren Verantwortung vor Allah, dem Erhabenen, äußert, bei einem anderen Muslim möglicherweise als ein Gewissen, das ihm Grenzen setzt und ihn lenkt. Auf jeden Fall hält es ihn von Gefühlen der persönlichen und moralischen Freiheit ab, wie sie der Europäer empfindet. Weil sich der muslimische Mensch an innere Grenzen gebunden fühlt, die nach moralischen Prinzipien dem Wohl der Gemeinschaft , in der er lebt, dienen, empfindet er eine tiefe Verbundenheit mit der Gemeinschaft, der er angehört, und er erlebt sich selbst als harmonisch in sie eingefügt, anstatt von der Idee des Konkurrenzkampfes, der das europäische Bewusstsein beherrscht, verfolgt zu werden. So verfestigte das Gemeinschaftsgefühl des muslimischen Menschen den weltweiten Rahmen für die islamische Botschaft, und mit der offensiven Vertretung dieser Botschaft ist die Verantwortung für deren weltweite Existenz und zeitliche und räumliche Verbreitung verbunden.

Weiterhin hat die Tatsache, dass der muslimische Mensch im Laufe der Geschichte durch eine weltweite Mission, die der gesamten Menschheit offen steht, geprägt wurde, in ihm das Gefühl des Weltbürgertums und der Verbundenheit mit der Gemeinschaft aller Menschen verankert. Von dieser Geisteshaltung des islamischen Menschen, die wir als ein Charakteristikum der psychologischen Struktur der Umma ansehen dürfen, kann profitiert werden, wenn man ein Modell für die Wirtschaftsordnung in der islamischen Welt entwirft und es in einen Rahmen setzt, der mit dieser Ethik übereinstimmt, damit es eine motivierende und mobilisierende Kraft wird, genauso wie die implizierte Moral der modernen europäischen Wirtschaftsmodelle ein bedeutender Faktor für deren Erfolg in Europa war, weil sie sich mit der dort herrschenden Mentalität im Einklang befand.

Die Tendenz des Menschen der islamischen Welt, seine Aufmerksamkeit auf den Himmel und nicht auf die Erde zu richten, kann zu einer negativen Haltung gegenüber dieser Welt und ihren Reichtümern und Vorzügen führen, die als Askese, übertriebene Genügsamkeit oder Faulheit in Erscheinung tritt, wenn diese Welt als getrennt vom Himmel empfunden wird. Wird jedoch die Erde zum Himmel in Beziehung gesetzt, und der Arbeit an der diesseitigen Natur der Rang einer Pflicht und die Bedeutung einer Art von Gottesdienst verliehen, dann wird sich jener Sinn für das Verborgene im muslimischen Menschen in eine dynamische Kraft und zum Ansporn, nach besten Kräften an der Anhebung des wirtschaftlichen Standards mitzuwirken, umwandeln. Anstelle der Gleichgültigkeit, die der negativ eingestellte Muslim heutzutage dieser Welt gegenüber empfindet, oder der seelischen Unsicherheit, die den aktiven Muslim, der sich gemäß dem Stil der liberalen oder sozialistischen Wirtschaft verhält, meistens beeinträchtigt, wie verwässert sein islamischer Glaube auch sein mag, wird eine vollkommene Harmonie zwischen der Mentalität des islamischen Menschen und dem positiven Beitrag, den er zum Entwicklungsprozess leisten wird, entstehen. Sein Verständnis der inneren Grenzen des Gewissens und der verborgenen Aufsicht, das den islamischen Menschen sich nicht wie den Europäer frei fühlen lässt, kann in hohem Maße hilfreich sein, die Schwierigkeiten zu verringern, die durch die freie Wirtschaft geschaffen werden, und die Komplikationen zu vermeiden, mit denen die Wirtschaftsentwicklung unter ihrem Vorzeichen im allgemeinen konfrontiert wird, und zwar durch eine übergeordnete Planung, die ihre Legitimität im Bewusstsein des islamischen Menschen aus dessen Verständnis innerer Schranken und unsichtbarer Aufsicht herleitet, d.h. die sich auf moralische Argumente stützt. Ebenso kann das Gefühl der Verbundenheit mit der Gemeinschaft zur Mobilisierung der Kräfte der islamischen Umma für den Kampf gegen die Rückständigkeit eingesetzt werden, wenn der Kampagne Parolen gegeben werden, die dieses Gefühl ansprechen, wie die Parole der Anstrengung [dschihad] zum Schutz und zur Selbstbehauptung der Umma, die bereits der Heilige Qur´an mit den Worten: Und setzt ihnen entgegen was ihr könnt an Kraft...[3] verkündete, womit er befahl, alle Kräfte bereitzustellen, einschließlich des wirtschaftlichen Potentials, das durch die Produktivkraft gekennzeichnet wird, als Beitrag zum Kampf der Umma zur Bewahrung ihrer Existenz und Souveränität. Hier wird die Bedeutung der islamischen Wirtschaftsordnung als das Wirtschaftsmodell, das in der Lage ist, von der Ethik des islamischen Menschen, die wir dargelegt haben, zu profitieren und sie zu einer treibenden Kraft und wichtigen Stütze bei den Entwicklungsprozessen und der erfolgreichen Planung eines gesunden Wirtschaftslebens zu verwandeln, ersichtlich. Wenn wir uns für die islamische Ordnung entscheiden, werden wir aus dieser Ethik Nutzen ziehen und in der Lage sein, sie für die Kampagne gegen die Rückständigkeit einzusetzen, im Gegensatz zu den schlechten Aussichten, wenn wir Wirtschaftskonzepte übernehmen, die psychologisch und ethisch mit einer anderen Grundlage verbunden sind.

Auch einige europäische Denker haben diese Wahrheit bereits erkannt und weisen auf sie hin, indem sie zugeben, dass ihre Modelle nicht zur Natur der islamischen Welt passen. Ich erwähne als Beispiel Jacques Austruy, der diese Beobachtung mit aller Deutlichkeit in seinem Buch “Der Islam und die wirtschaftliche Entwicklung“ aufzeigt, obwohl es ihm nicht gelingt, den technischen und logischen Zusammenhang, der die europäische und die islamische Ethik jeweils formte, deutlich zu machen und die einzelnen Kettenglieder richtig zu verbinden, und obwohl er den Gehalt der beiden Ethiken nicht in vollem Umfang erfasst und ihm eine Anzahl von Fehlern unterlaufen. Wenn man sich auch völlig darauf verlassen kann, dass diese Fehler im Vorwort des verehrten Professors Muhammad Mubarak und in der Übersetzung ins Arabische des Dr. Nabil Subhi at-Tawil aufgezeigt werden, möchte ich bei Gelegenheit noch ausführliche Anmerkungen in diesem Zusammenhang machen. Ich möchte hier nur soviel sagen, dass die Jenseitsbezogenheit des Menschen in der islamischen Welt ursprünglich nicht bedeutet, dass der Mensch sich seinem Schicksal ergibt, auf die Hilfe der Umstände und günstigen Gelegenheiten vertraut und sich unfähig fühlt, zu gestalten und schöpferisch tätig zu sein, so wie Jacques Austruy versucht, das darzustellen; vielmehr ist diese Neigung des islamischen Menschen in Wahrheit Ausdruck des Prinzips der Stellvertreterschaft [chalifa] Allahs, des Menschen auf der Erde, und er neigt seiner Natur nach dazu, seinen Lebenszweck auf der Welt als Stellvertreter Allahs anzusehen. Ich kenne keinen Begriff, der vorzüglicher als der der Stellvertreterschaft Allahs die Kraft und Fähigkeit des Menschen bestätigen, macht er ihn doch zum Stellvertreter des absoluten Herrn über das Universum. Und ich kenne keinen Begriff, der weniger nahelegen würde, sich in das Schicksal und die Umstände dreinzugeben, denn Stellvertreterschaft schließt Verantwortung gegenüber demjenigen ein, dessen Stellvertreter man ist, und es gibt keine Verantwortlichkeit ohne Freiheit und das Gefühl der selbstständigen Entscheidung und die Fähigkeit, der Umstände Herr zu werden. Was wäre das sonst für eine Stellvertreterschaft, wenn der Mensch in seinen Handlungen gebunden und sein Lebensweg vorbestimmt wäre? Deshalb sagen wir, dass die Fähigkeiten des muslimischen Menschen freigesetzt und seine Möglichkeiten mobilisiert werden, indem dieser Erde ein jenseitiger Bezug gegeben wird. Wird dagegen dieser Bezug abgeschnitten, dann verliert auch die Stellvertreterschaft ihre Bedeutung und im muslimischen Menschen verhärtet sich eine negative Haltung gegenüber der diesseitigen Welt. Die negative Haltung entspringt also nicht der Natur des Menschen der islamischen Welt, sein Interesse dem Jenseits zuzuwenden, sondern sie entsteht, wenn die enorme mobilisatorische Kraft dieser Sichtweise ungenutzt bleibt, indem die Welt in einen Rahmen gestellt wird, der nicht mit ihr harmoniert.

Zusätzlich zu allem bisher Gesagten möchten wir darauf hinweisen, dass wir die Möglichkeit haben, indem wir den Islam zur Grundlage der allgemeinen Ordnung machen, unser gesamtes Leben mit seinen spirituellen und gesellschaftlichen Aspekten auf ein einziges Fundament zu stellen, denn der Islam umfasst beide Bereiche, während viele andere gesellschaftliche Lehren (außer dem Islam) sich auf den Bereich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen und dergleichen im menschlichen Leben beschränken. Wenn wir also von Menschen geschaffene allgemeine Richtlinien für das Leben anstelle der islamischen Ordnung übernehmen, können wir nicht ohne eine zusätzliche Ordnung für den spirituellen Bereich auskommen, und wir haben keinen anderen geeigneten Bezugspunkt zur Ordnung unseres spirituellen Lebens als den Islam. Das hieße, man müsste den spirituellen und den gesellschaftlichen Bereich nach jeweils gesonderten Prinzipien gestalten, obwohl sich beide doch nicht trennen lassen; vielmehr sind sie in hohem Maße voneinander beeinflusst, und diese gegenseitige Abhängigkeit macht es sinnvoller, ihnen ein gemeinsames Prinzip zu geben. Dies würde der Tatsache, dass die spirituellen und gesellschaftlichen Aktivitäten im Leben des Menschen fest miteinander verwoben sind, besser gerecht.

Nadschaf, Irak                                     

Muhammad Baqir as-Sadr[4]

[1] Das Buch wurde 1960/1961 geschrieben, also zwei Jahrzehnte vor der Islamischen Revolution im Iran. Die zweite Auflage wurde 1982 aufgelegt, immer noch sieben Jahre vor der Islamischen Revolution im Iran.

[2] Die Schari'a, das islamische Recht oder eingedeutscht "Scharia", bedeutet ein Weg zur Tränke oder deutlicher, gebahnter Weg. Es steht für religiöses Gesetz bzw. Ritus. Der Begriff ist abgeleitet aus dem Verb "den Weg weisen" bzw. "vorschreiben" [schara'a]. Der Begriff umfasst die gesamte religiöse Pflichtenlehre des Islam, in der die Regelung aller Bereiche des menschlichen Daseins integriert ist und ist genau so flexibel wie unterschiedlich innerhalb verschiedener Auslegungen. Sie umfasst sowohl moralische, als auch juristische Komponenten, wie auch beispielsweise die religiösen Verpflichtungen [wadschib], religionsrechtliche Abgaben, Definitionen von Begriffen wie auch das Strafrecht; kurz die Gesamtheit aller Normen. Die Kopplung aller dieser in der Westlichen Welt eher getrennt behandelten Lebensbereiche geht im Islam auf das Konzept der Einheit [tauhid] zurück.

[3] Heiliger Qur´an: Sure 8, Vers 60

[4] Es ist kein Datum für das Vorwort zur zweiten Auflage angegeben, sie erschien in Beirut (Dar al-Fikr) 1968.

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