Beispiel
Es gibt in den überlieferten Textquellen
zahlreiche Beispiele für die Wahrnehmung seiner Kompetenzen im
Rahmen des Freiraumes durch den verantwortlichen
Befehlshaber [wali-ul-amr],
und diese Beispiele werfen ein Licht auf die Natur dieses
Freiraumes und die Wichtigkeit seiner positiven Rolle für die
Regelung des Wirtschaftsleben. Daher werden wir im Folgenden
einige dieser Beispiele, belegt durch Überlieferungs-Texte,
anführen:
a) Aus verschiedenen
Überlieferungs-Texten geht hervor, dass der Prophet (s.) es
den Bürgern von Medina und der Umgebung untersagt hat, den
Überschuss an Wasser und Weideland anderen vorzuenthalten. So
wird der Ausspruch des Imam al-Sadiq (a.) überliefert: „Allahs
Gesandter (s.) entschied unter den Bürgern von Medina über die
Bewässerung der Dattelpalmen, dass der Überschuss an Wasser,
ebenso wie der an Weideland, niemandem vorenthalten werden
dürfe.“ Dieses Untersagen ist als tatsächliches Verbot zu
verstehen, wie es der übliche Begriffsinhalt des Wortes
“Verbot“ [nahy] verlangt. Wenn wir zusätzlich zu dieser
Tatsache die Auffassung der großen Mehrheit der
Rechtsgelehrten berücksichtigen, dass es nicht zu den vom
islamischen Recht [scharia] prinzipiell verbotenen
Handlungen gehört, wenn ein Mensch den Überschuss des ihm
gehörenden Wassers oder Weidelandes anderen vorenthält,
vergleichbar dem Vorenthalten des Lebensunterhaltes der
Ehefrau durch den Ehemann oder dem Genuss von Wein, dann
können wir den Schluss ziehen, dass der Prophet (s.) dieses
Verbot in seiner Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr]
erlassen hat. Es handelte sich also um eine Wahrnehmung seiner
Kompetenzen beim Ausfüllen des gesetzgeberischen Freiraumes
entsprechend den Erfordernissen der Umstände, denn die
Gesellschaft von Medina bedurfte seinerzeit dringend einer
Vermehrung des landwirtschaftlichen Reichtums. Daher
verpflichtete der Staat
die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft, den Überschuss
ihres Wassers und ihres Weidelandes den anderen zur Verfügung
zu stellen, um die Entwicklung von landwirtschaftlichem
Reichtum zu fördern. Somit erkennen wir, dass das zur
Verfügung Stellen von überreichlichen Wasser und Weideland
eine ihrer Natur nach rechtlich “indifferente“ Handlung ist,
welche der Staat hierfür zur verbindlichen Pflicht erklärt
hat, um einem dringlichen Interesse der Allgemeinheit gerecht
zu werden.
b) Von dem Propheten (s.) wird
überliefert, dass er den Verkauf der Frucht vor ihrer Reife
verboten habe. So heißt es in einer Überlieferung, dass Imam
al-Sadiq (a.) zu dem Fall befragt wurde, dass ein Mann den
bestimmten Fruchtertrag eines Landstückes gekauft hatte, und
dann die ganzen Früchte dieses Landes eingingen, worauf der
Imam (a.) sagte: „Ein solcher Fall wurde von streitenden
Parteien Allahs Gesandtem (s.) vorgetragen, und man beriet
darüber, und als der Prophet bemerkte, dass sie mit ihrem
Streit nicht aufhörten, verbot er ihnen einen derartigen
Verkauf der Frucht vor der Reife, aber er machte es nicht zu
einem generellen Verbot, sondern er tat dies nur wegen ihrer
Streitigkeiten.“ Und in einer anderen Überlieferung heißt
es, der Prophet habe diese Art von Verkauf für legitim
erklärt, bis bei einem konkreten Fall Streit entstanden war,
worauf er gesagt habe: „Die Frucht soll nicht verkauft
werden, bevor ihr einwandfreier Zustand zu erkennen ist.“
Der Verkauf der Frucht, bevor ihr einwandfreier Zustand zu
erkennen ist, ist also eine normalerweise “indifferente“
Handlung, welche das islamische Recht [scharia] im
allgemeinen erlaubt. Aber der Prophet (s.) hat diesen Verkauf
in seiner Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr]
in einem speziellen Fall verboten, um die sich daraus
ergebenden nachteiligen Folgen und Streitigkeiten abzuwenden.
c) Von al-Tirmidhi wird überliefert, dass
Rafi´ibn Chadidsch gesagt habe: „Allahs Gesandter hat uns eine
Sache verboten, von der wir Nutzen hatten, nämlich dass einer
von uns, dem Land gehörte, dieses für einen Teil seines
Ertrages oder für Geld einem anderen überließ. Und er sagte: „Wenn
einem vom euch Land gehört, dann soll er es seinem Bruder
unentgeltlich zur Verfügung stellen oder es selbst bestellen.“
Wenn wir sowohl die Tatsache dieses Verbotes als auch die
Einigkeit der Rechtsgelehrten darüber, dass das islamische
Recht [scharia] die Verpachtung von Land nicht generell
verbietet, zur Kenntnis nehmen, und weiterhin berücksichtigen,
dass zahlreiche überlieferte Zitate der Prophetengefährten
vorliegen, welche auf die Zulässigkeit der Verpachtung von
Land hinweisen ..., dann gelangen wir zu einer bestimmten
Interpretation des in der Überlieferung von Rafi´ibn Chadidsch
angeführten Prophetenausspruches, nämlich dass der Prophet
(s.) das Verbot in seiner Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr]
erlassen hat, und nicht als allgemeingültige gesetzliche
Bestimmung. Der Prophet (s.) konnte also das Verpachten von
Land, das normalerweise eine rechtliche “indifferente“
Handlung darstellt, in seiner Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr]
entsprechend den Erfordernissen der Lage vorübergehend
verbindlich verbieten.
d) Im Auftrag von Imam Ali (a.) an seinen
Gouverneur Malik al-Aschtar finden sich Anweisungen, die
Preise entsprechend den Erfordernissen der Gerechtigkeit von
staatlicher Seite zu reglementieren. So spricht der Imam zu
seinem Gouverneur von den Händlern, und ermahnt ihn, sich
dieser anzunehmen, und fügt dann hinzu: „Und wisse –
dennoch – dass viele von ihnen sich eine üble Verknappung von
Waren, einen hässlichen Geiz, eine Monopolisierung von
nützlichen Dingen und eine Kontrolle über die
Handelstransaktionen zuschulden kommen lassen, und so etwas
ist schädlich für die Allgemeinheit und gereicht den
Gouverneuren nicht zur Ehre. Verhindere also die
Monopolisierung, denn auch Allahs Gesandter hat sie
unterbunden. Der Verkauf soll großzügig sein und sich an den
Maßstäben der Gerechtigkeit orientieren, und die Preise sollen
weder die Verkäufer noch die Käufer übervorteilen.“ Vom
Standpunkt der Rechtswissenschaft [fiqh] ist es klar,
dass es dem Verkäufer freisteht, zu jedem gewünschten Preis zu
verkaufen, und dass das islamische Recht [scharia] es
dem Eigentümer einer Ware nicht generell verbietet, diese zu
einem überhöhten Preis zu verkaufen. Die Anordnung des Imam
(a.), die Preise zu begrenzen und den Händlern den Verkauf zu
höheren Preisen zu untersagen, wurde von ihm also in seiner
Eigenschaft als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr] erlassen. Es handelte
sich demnach um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen zum
Ausfüllen des Freiraumes, entsprechend den Erfordernissen der
sozialen Gerechtigkeit, für die der Islam eintritt.