Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Beispiel

Es gibt in den überlieferten Textquellen zahlreiche Beispiele für die Wahrnehmung seiner Kompetenzen im Rahmen des Freiraumes durch den verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr], und diese Beispiele werfen ein Licht auf die Natur dieses Freiraumes und die Wichtigkeit seiner positiven Rolle für die Regelung des Wirtschaftsleben. Daher werden wir im Folgenden einige dieser Beispiele, belegt durch Überlieferungs-Texte, anführen:

a) Aus verschiedenen Überlieferungs-Texten geht hervor, dass der Prophet (s.) es den Bürgern von Medina und der Umgebung untersagt hat, den Überschuss an Wasser und Weideland anderen vorzuenthalten. So wird der Ausspruch des Imam al-Sadiq (a.) überliefert: „Allahs Gesandter (s.) entschied unter den Bürgern von Medina über die Bewässerung der Dattelpalmen, dass der Überschuss an Wasser, ebenso wie der an Weideland, niemandem vorenthalten werden dürfe.“ Dieses Untersagen ist als tatsächliches Verbot zu verstehen, wie es der übliche Begriffsinhalt des Wortes “Verbot“ [nahy] verlangt. Wenn wir zusätzlich zu dieser Tatsache die Auffassung der großen Mehrheit der Rechtsgelehrten berücksichtigen, dass es nicht zu den vom islamischen Recht [scharia] prinzipiell verbotenen Handlungen gehört, wenn ein Mensch den Überschuss des ihm gehörenden Wassers oder Weidelandes anderen vorenthält, vergleichbar dem Vorenthalten des Lebensunterhaltes der Ehefrau durch den Ehemann oder dem Genuss von Wein, dann können wir den Schluss ziehen, dass der Prophet (s.) dieses Verbot in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] erlassen hat. Es handelte sich also um eine Wahrnehmung seiner Kompetenzen beim Ausfüllen des gesetzgeberischen Freiraumes entsprechend den Erfordernissen der Umstände, denn die Gesellschaft von Medina bedurfte seinerzeit dringend einer Vermehrung des landwirtschaftlichen Reichtums. Daher verpflichtete der Staat[1] die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft, den Überschuss ihres Wassers und ihres Weidelandes den anderen zur Verfügung zu stellen, um die Entwicklung von landwirtschaftlichem Reichtum zu fördern. Somit erkennen wir, dass das zur Verfügung Stellen von überreichlichen Wasser und Weideland eine ihrer Natur nach rechtlich “indifferente“ Handlung ist, welche der Staat hierfür zur verbindlichen Pflicht erklärt hat, um einem dringlichen Interesse der Allgemeinheit gerecht zu werden.

b) Von dem Propheten (s.) wird überliefert, dass er den Verkauf der Frucht vor ihrer Reife verboten habe. So heißt es in einer Überlieferung, dass Imam al-Sadiq (a.) zu dem Fall befragt wurde, dass ein Mann den bestimmten Fruchtertrag eines Landstückes gekauft hatte, und dann die ganzen Früchte dieses Landes eingingen, worauf der Imam (a.) sagte: „Ein solcher Fall wurde von streitenden Parteien Allahs Gesandtem (s.) vorgetragen, und man beriet darüber, und als der Prophet bemerkte, dass sie mit ihrem Streit nicht aufhörten, verbot er ihnen einen derartigen Verkauf der Frucht vor der Reife, aber er machte es nicht zu einem generellen Verbot, sondern er tat dies nur wegen ihrer Streitigkeiten.“ Und in einer anderen Überlieferung heißt es, der Prophet habe diese Art von Verkauf für legitim erklärt, bis bei einem konkreten Fall Streit entstanden war, worauf er gesagt habe: „Die Frucht soll nicht verkauft werden, bevor ihr einwandfreier Zustand zu erkennen ist.“ Der Verkauf der Frucht, bevor ihr einwandfreier Zustand zu erkennen ist, ist also eine normalerweise “indifferente“ Handlung, welche das islamische Recht [scharia] im allgemeinen erlaubt. Aber der Prophet (s.) hat diesen Verkauf in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] in einem speziellen Fall verboten, um die sich daraus ergebenden nachteiligen Folgen und Streitigkeiten abzuwenden.

c) Von al-Tirmidhi wird überliefert, dass Rafi´ibn Chadidsch gesagt habe: „Allahs Gesandter hat uns eine Sache verboten, von der wir Nutzen hatten, nämlich dass einer von uns, dem Land gehörte, dieses für einen Teil seines Ertrages oder für Geld einem anderen überließ. Und er sagte: „Wenn einem vom euch Land gehört, dann soll er es seinem Bruder unentgeltlich zur Verfügung stellen oder es selbst bestellen.“ Wenn wir sowohl die Tatsache dieses Verbotes als auch die Einigkeit der Rechtsgelehrten darüber, dass das islamische Recht [scharia] die Verpachtung von Land nicht generell verbietet, zur Kenntnis nehmen, und weiterhin berücksichtigen, dass zahlreiche überlieferte Zitate der Prophetengefährten vorliegen, welche auf die Zulässigkeit der Verpachtung von Land hinweisen ..., dann gelangen wir zu einer bestimmten Interpretation des in der Überlieferung von Rafi´ibn Chadidsch angeführten Prophetenausspruches, nämlich dass der Prophet (s.) das Verbot in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] erlassen hat, und nicht als allgemeingültige gesetzliche Bestimmung. Der Prophet (s.) konnte also das Verpachten von Land, das normalerweise eine rechtliche “indifferente“ Handlung darstellt, in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] entsprechend den Erfordernissen der Lage vorübergehend verbindlich verbieten.

d) Im Auftrag von Imam Ali (a.) an seinen Gouverneur Malik al-Aschtar finden sich Anweisungen, die Preise entsprechend den Erfordernissen der Gerechtigkeit von staatlicher Seite zu reglementieren. So spricht der Imam zu seinem Gouverneur von den Händlern, und ermahnt ihn, sich dieser anzunehmen, und fügt dann hinzu: „Und wisse – dennoch – dass viele von ihnen sich eine üble Verknappung von Waren, einen hässlichen Geiz, eine Monopolisierung von nützlichen Dingen und eine Kontrolle über die Handelstransaktionen zuschulden kommen lassen, und so etwas ist schädlich für die Allgemeinheit und gereicht den Gouverneuren nicht zur Ehre. Verhindere also die Monopolisierung, denn auch Allahs Gesandter hat sie unterbunden. Der Verkauf soll großzügig sein und sich an den Maßstäben der Gerechtigkeit orientieren, und die Preise sollen weder die Verkäufer noch die Käufer übervorteilen.“ Vom Standpunkt der Rechtswissenschaft [fiqh] ist es klar, dass es dem Verkäufer freisteht, zu jedem gewünschten Preis zu verkaufen, und dass das islamische Recht [scharia] es dem Eigentümer einer Ware nicht generell verbietet, diese zu einem überhöhten Preis zu verkaufen. Die Anordnung des Imam (a.), die Preise zu begrenzen und den Händlern den Verkauf zu höheren Preisen zu untersagen, wurde von ihm also in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] erlassen. Es handelte sich demnach um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen zum Ausfüllen des Freiraumes, entsprechend den Erfordernissen der sozialen Gerechtigkeit, für die der Islam eintritt.

[1] D.h. in diesem Fall der Prophet Muhammad (a.) in seiner Eigenschaft als Oberhaupt des islamischen Staates.

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