Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Bemerkungen

Vergleichende Untersuchung der islamischen Wirtschaftstheorie mit anderen Ideologien

Wir haben gesehen, dass das islamische Recht [scharia] innerhalb der Grenzen, die von der allgemeinen Theorie der Verteilung “dessen, was vor der Produktion existiert“ gesetzt werden, Einzelpersonen den Erwerb persönlicher Rechte an natürlichen Produktionsquellen erlaubt. Dabei unterscheidet sich die theoretische Begründung dieser Rechte von deren Begründung sowohl in der kapitalistischen, als auch in der mar­xis­tischen Ideologie. Die kapitalistische Ideologie gestattet es jedem Einzelnen, sich natürliche Produktionsquellen nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit anzueignen. Der einzelne kann jeden Reichtum, den er in seine Gewalt bringt, als sein Eigentum betrachten, solange dem nicht die Freiheit der Aneignung entgegensteht, die anderen gewährt ist. Der Bereich, innerhalb dessen das private Eigentum einer Person erlaubt ist, wird also nur durch die Bewahrung des Rechtes der freien Aneignung anderer Personen eingegrenzt. Somit leitet der Einzelne die Rechtfertigung seines Eigentums an bestimmten Gütern aus dem Umstand her, dass er frei in seinen Handlungen ist, und andere nicht in ihrer Freiheit beeinträchtigt. Dagegen erkennt die islamische allgemeine Theorie der Verteilung natürlicher Reichtümer, die wir untersucht haben, die Freiheit der Aneignung, so wie der Kapitalismus sie versteht, nicht an, sondern betrachtet das Anrecht einer Person auf eine “rohe“ natürliche Produktionsquelle als gebunden an deren Eigentumsrecht an dem Ergebnis ihrer Arbeit, oder an deren direkte und kontinuierliche Nutzung der jeweiligen Ressource, so dass das Recht hinfällig wird, wenn keine der beiden Voraussetzungen gegeben ist.

Die persönlichen Rechte an natürlichen Ressourcen ergeben sich nach kapitalistischer Sichtweise aus der Freiheit des Menschen, die er unter einem kapitalistischen System genießt, während sie sich im Islam aus den Aktivitäten des Menschen, bzw. aus dessen Verrichtung von Arbeiten der Nutzung und Ausbeutung ergeben. Dagegen glaubt der Marxismus an die Notwendigkeit der Abschaffung von privaten Eigentum an natürlichen Ressourcen und sonstigen Produktionsmitteln, und propagiert die Befreiung jener Produktionsmittel von persönlichen Rechten, da es für solche keine Rechtfertigung mehr geben soll, seit die Geschichte im Zeitalter des modernen kapitalistischen Menschen in eine bestimmte Phase eingetreten ist, dir durch die maschinelle Industrieproduktion eingeläutet wurde. Der Glaube des Marxismus an die Notwendigkeit der Abschaffung solchen Eigentums bedeutet nicht, wenn man die Frage theoretisch-analytisch betrachtet, dass nach marxistischem Verständnis das Privateigentum prinzipiell ungerechtfertigt ist, sondern ist Ausdruck der ideologischen Überzeugung, dass das Privateigentum seine Zweckbestimmung für den Lauf der Geschichte bereits erfüllt und in der jetzigen historischen Phase keinen Sinn mehr hat, nachdem es seine Existenzberechtigung verloren hat und zu einer gegen den Strom gerichteten Kraft geworden ist.

Um zwischen der marxistischen Theorie und dem Islam vergleichen zu können, müssen wir wissen, welche im Marxismus die theoretischen Rechtfertigungen für Privateigentum sind, und wie es im Zeitalter der kapitalistischen Produktionsweise diese Existenzberechtigung verloren haben soll.[1] Der Marxismus vertritt die Ansicht, dass sämtliche rohen natürlichen Reichtümer von sich aus keinen Tauschwert haben, sondern lediglich vielfältigen Gebrauchswert, denn der Tauschwert von Gütern soll nur durch darin verkörperte menschliche Arbeit entstehen. Die Arbeit soll also den Tauschwert der Artikel schaffen, während rohe Reichtümer in ihrem Naturzustand, die durch keine bestimmte menschliche Arbeit geformt sind, keinerlei Tauschwert haben sollen. Damit verknüpft der Marxismus den Tauschwert mit der Arbeit, und behauptet, dass der Arbeiter, der an einer natürlichen Produktionsquelle oder irgendeinem natürlichen Reichtum eine Arbeit verrichtet, dem Gut, das er bearbeitet, einen Tauschwert verleihe, der vom Umfang seiner aufgewendeten Arbeit abhängig sei. Ebenso wie der Marxismus die Arbeit und den Tauschwert der Güter miteinander verknüpft, macht er auch das Eigentum vom Tauschwert abhängig, indem er dem Einzelnen, der durch seine Arbeit einen Tauschwert an einem Gut schafft, das Recht zugesteht, sich dieses Gut anzueignen, und über diesen von ihm daran geschaffenen Wert zu verfügen. Das Eigentum einer Person an Gütern wird im Marxismus dadurch theoretisch gerechtfertigt, dass diese den Tauschwert dieser Güter mit der Arbeit geschaffen habe, die sie darauf aufgewendet hat. Auf der Grundlage dieser Theorie entsteht der Person ein Eigentumsrecht an natürlichen Ressourcen und Produktionsmitteln, wenn sie darauf eine gewisse Arbeit aufwenden kann, die diesen einen bestimmten Tauschwert verleiht. Tatsächlich erscheint dieses Eigentum im Lichte der marxistischen Theorie ebenfalls als das Eigentum an dem aus der Arbeit hervorgegangenen Ergebnis, und nicht als Eigentum an natürlichen Produktionsquellen unabhängig von diesem Ergebnis; aber jenes Ergebnis, dass dem Arbeitenden gehören soll, ist nicht die Gelegenheit der Nutzung, in ihrer Eigenschaft als ein durch die Arbeit entstandener Zustand, so wie wir es bei der islamischen allgemeinen Theorie über die “Verteilung dessen, was vor der Produktion existiert“, gesehen haben, sondern der Tauschwert, der nach marxistischer Sichtweise durch die Arbeit entsteht.

Der Arbeiter soll also den natürlichen Ressourcen einen bestimmten Wert verleihen, und Eigentümer dieses Wertes werden, zu dem er dem Gut verholfen hat. Ausgehend von dieser Grundlage der Rechtfertigung von privatem Eigentum stellt der Marxismus fest: Dieses Eigentum bleibt so lange legitim, wie eine Gesellschaft nicht in die Phase der kapitalistischen Produktionsweise eingetreten ist, in der die Eigentümer von Ressourcen und Produktionsmitteln diese Menschen, die nichts besitzen, zur Verfügung stellen, damit letztere dort gegen Entgelt arbeiten, und die Gewinne den Eigentümern jener Ressourcen und Produktionsmittel überlassen. Denn der Wert dieser Gewinne wird nach kurzer Zeit die Höhe des Tauschwertes der Ressourcen und Produktionsmittel erreicht haben, womit deren Eigentümer voll entschädigt wäre, da sein Anrecht an den Wert gebunden ist, den er durch seine Arbeit an diesen Produktionsquellen geschaffen hat. Sobald er diesen Wert in Form der Gewinne, die er einzieht, erhalten hat, soll seine Beziehung zu den Ressourcen und Produktionsmitteln, die ihm gehört haben, enden. So verliert nach der marxistischen Theorie das private Eigentum seine Berechtigung und wird illegitim, wenn die Gesellschaft in die Phase der kapitalistischen Produktionsweise, bzw. der Lohnarbeit, eintritt. Auf dieser Grundlage, die das Eigentum des Arbeiters vom Tauschwert der von ihm produzierten Güter abhängig macht, ermöglicht es die marxistische Theorie einem anderen Arbeiter – wenn er ein Gut bearbeitet – sich den neuen Wert anzueignen, der durch seine Arbeit entsteht. Wenn z.B. jemand in den Wald geht und dort Holz schlägt, und aus dem Holz unter Aufwand von Mühe Bretter macht, und dann ein anderer kommt und aus den Brettern ein Bett fertigt, dann soll jeder von beiden jeweils Eigentümer des Tauschwertes werden, den seine Arbeit geschaffen hat. Daher erachtet der Marxismus den Lohnarbeiter in einem kapitalistischen System als den eigentlichen rechtmäßigen Eigentümer des gesamten Tauschwertes, den das Rohmaterial durch seine Arbeit gewinnt, so dass es einem Diebstahl an dem Lohnarbeiter gleichkomme, wenn der Eigentümer des bearbeiteten Materials einen Teil dieses Wertes als sogenannte Gewinn einbehalte. Demnach soll der Wert eines Gutes von der daran aufgewendeten Arbeit abhängen, und Eigentum nur im Rahmen des Wertes, den die Arbeit des Eigentümers selbst geschaffen hat, gerechtfertigt sein. Dies sind die marxistischen Rechtfertigungen von privatem Eigentum, die man in den beiden folgenden Postulaten zusammenfassen kann:

1)    Der Tauschwert ist abhängig von der Arbeit und wird durch diese geschaffen.

2)    Das Eigentum des Arbeiters ist abhängig von dem Tauschwert, den seine Arbeit schafft.

Wir widersprechen beiden Postulaten des Marxismus. Was das erstere Postulat betrifft, das den Tauschwert mit der Arbeit verknüpft, und aus dieser den prinzipiellen und alleinigen Maßstab dafür macht, so haben wir es in den Kapiteln dieses Buches “Über den Marxismus“ mit aller Ausführlichkeit erörtert, und konnten nachweisen, dass sich der Tauschwert von Gütern nicht prinzipiell aus der darauf verwandten Arbeit ergibt. Damit brechen sämtliche Gedankengebäude zusammen, die der Marxismus auf der Grundlage dieses Postulats errichtet hat. Und das zweite Postulat, welches das Eigentum des Einzelnen von dem Tauschwert, der aus seiner Arbeit hervorgeht, abhängig macht, widerspricht der Sichtweise der allgemeinen Theorie des Islam über die “Verteilung dessen, was vor der Produktion existiert“. Denn auch wenn im Islam die persönlichen Rechte Einzelner an natürlichen Produktionsquellen darauf beruhen, dass dem Einzelnen das Ergebnis seiner Arbeit gehört, so handelt es sich bei dem Ergebnis der Arbeit, das einem Arbeiter gehört, der z.B. ein Stück Land während einer Woche Arbeitszeit urbar gemacht hat, doch nicht um den Tauschwert, der während einer Woche geschaffen wurde, wie es der Marxismus sieht. Vielmehr ist das Ergebnis, das dem Arbeiter an dem von ihrem erschlossenen Land gehört, die Gelegenheit der Nutzung dieses Landes. Indem ihm diese Gelegenheit gehört, entsteht sein persönliches Anrecht auf das Land selbst, und solange diese Gelegenheit weiterbesteht, gilt sein Anrecht auf das Land als unverändert. Und kein anderer kann Eigentümer dieses Landes werden, indem er eine neue Arbeit darauf verwendet, selbst wenn die neue Arbeit dessen Tauschwert vervielfachen sollte, denn die Gelegenheit der Nutzung dieses Landes gehört dem ersteren, und man darf sie ihm nicht streitig machen.

Dies ist der grundsätzliche Unterschied in theoretischer Hinsicht zwischen dem speziellen marxistischen Prinzip bei der Verteilung von natürlichen Produktionsquellen und dem entsprechenden islamischen Prinzip. Nach dem ersteren Prinzip wird das persönliche Recht eines Einzelnen darauf zurückgeführt, dass dem Arbeiter nicht mehr und nicht weniger als der Tauschwert gehört, den das Land durch seine Arbeit erhält, und nach dem letzteren Prinzip darauf, dass dem Arbeiter die tatsächliche Nutzungsgelegenheit, die durch seine Arbeit an dem Land entstanden ist, gehört. Der Grundsatz, demzufolge die persönlichen Rechte an natürlichen Produktionsquellen auf Arbeit beruhen, und dem Arbeitenden das tatsächliche Ergebnis seiner Arbeit gehört, spiegelt die islamische Theorie wider. Und der Grundsatz, demzufolge der Tauschwert natürlicher Produktionsquellen auf der daran verrichteten Arbeit beruht, und das Eigentum des Arbeitenden durch den von ihm geschaffenen Tauschwert bestimmt wird, spiegelt die marxistische Theorie wider. Aus diesem wesentlichen Gegensatz der beiden Grundprinzipien entspringen alle Unterschiede, die wir auch bei den Konzepten des Islam und des Marxismus für die Verteilung der produzierten Güter finden werden

[1] Unter der “marxistischen Theorie“ verstehen wir hier die wirtschaftliche Theorie der marxistischen Ideologie, nicht die Theorie von Marx hinsichtlich der Interpretation und Analyse der Geschichte. So wird das Privateigentum im Marxismus einmal in seiner Eigenschaft als historisches Phänomen untersucht, und in dieser Eigenschaft wird es, auf der Grundlage der Marxschen Theorie der Geschichte, durch die jeweiligen Bedingungen des Klassenantagonismus, durch die Produktionsweise und durch die Art der produktiven Kräfte gerechtfertigt. Das Privateigentum kann aber auch auf rein wirtschaftlicher Grundlage untersucht werden, um seine gesetzgeberische Legitimierung, nicht seine historische Existenzberechtigung, herauszufinden. In diesem Fall muss nach seiner marxistischen Legitimierung in den Theorien von Marx über den Wert, die Arbeit und den Mehrwert geforscht werden. (Fußnote des Autors)

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