Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Bedürftigkeit gemäß islamischer und marxistisch-sozialistischer Sicht

Der Sozialismus, der fordert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seiner Arbeitsleistung“, baut auf die Arbeit als prinzipielles Kriterium bei der Güterverteilung, so dass jedem Arbeiter das Produkt seiner Arbeit zusteht, gleichgültig wie unbedeutend oder bedeutend es sein mag. Damit spielt die Bedürftigkeit bei der Verteilung keine Rolle mehr, denn der Anteil des Arbeitenden wird nicht durch seine Bedürftigkeit begrenzt, wenn er durch seine Arbeit mehr produziert als er benötigt, und er bekommt nicht genug, um seine Bedürfnisse voll zu befriedigen, wenn seine Arbeit nicht die produktive Leistung erbringt, die dem Gegenwert dieser Bedürfnisse entspricht. Jeder Einzelne erhält also den Gegenwert seiner Arbeit, unabhängig von seinen Bedürfnissen und von der Höhe des Wertes, den die Arbeit erzielt. Dies widerspricht der islamischen Beurteilung der Bedürfnisse, denn diese spielen nach islamischer Sichtweise eine wichtige und positive Rolle, d.h. wenn sie auch nicht bedingen, dass dem begabten Arbeiter die Früchte seiner Arbeit vorenthalten werden, wenn die seinen Bedarf übertreffen, bestimmen sie doch wirksam den Anteil, der an die zweite Gruppe in der Gesellschaft verteilt wird, die wir soeben vorgestellt haben, nämlich an diejenigen, deren geistige und körperliche Fähigkeiten nur dazu ausreichen, ihnen das lebensnotwendige Minimum zu verschaffen. Diese Gruppe muss sich nach marxistisch-sozialistischen Wirtschaftsprinzipien mit dem kümmerlichen Ertrag ihrer Arbeit begnügen, wobei große Unterschiede zwischen ihrem Lebensstandard und dem der ersten Gruppe, die sich ein Leben im Wohlstand erarbeiten kann, in Kauf genommen werden; denn im Sozialismus bestimmt die Arbeit über die Einkommensverteilung, und der Arbeiter darf keinen höheren Lebensstandard erwarten als den, den ihm seine Arbeitsleistung verschafft. Unter der islamischen Wirtschaftsordnung ist die Situation anders, denn der Islam beschränkt sich bei der Organisation des Verteilungssystems nicht auf das Kriterium der Arbeit, sondern bezieht dich Bedürftigkeit mit ein, und er sieht die Unfähigkeit der zweiten Gruppe, sich einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, als eine Art von Bedürftigkeit an, und setzt bestimmte Mittel und Wege fest, um diesen Status der Bedürftigkeit zu überwinden. Dem begabten und vom Glück begünstigten Arbeiter werden also die Früchte seiner Arbeit, sofern sie über seine Bedürfnisse hinausgehen, nicht vorenthalten, aber derjenige, der sich durch seine Arbeitskraft nur das Existenzminimum sichern kann, wird mehr bekommen, als er selbst produziert.

Ein weiterer Unterschied zwischen der Denkweise des Islam und der des marxistischen Sozialismus besteht in der jeweiligen Haltung gegenüber der dritten Gruppe der Gesellschaft, die aufgrund ihrer naturgegebenen geistigen oder körperlichen Mängel von der Arbeit ausgeschlossen sind. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Islam und dem marxistischen Sozialismus über diese Gruppe der Ausgeschlossenen entstehen durch die gegensätzlichen Konzepte für das System der Güterverteilung. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang nicht mit der Haltung befassen, die die heutige sozialistische Welt gegenüber dieser dritten Gruppe einnimmt, und ich möchte nicht Behauptungen wiederholen, die besagen, der arbeitsunfähige Mensch sei in der sozialistischen Gesellschaft zum Hungertod verurteilt, denn ich möchte die Frage mit Blick auf die Theorie und nicht auf die Praxis erörtern, und nicht die Verantwortung für die Behauptungen übernehmen, welche die Feinde der sozialistischen Welt ständig ins Feld führen. Die marxistisch-sozialistische Wirtschaftslehre kann die Existenzberechtigung der dritten Gruppe nicht theoretisch erklären, und nicht rechtfertigen, wieso sie einen Anteil von der allgemeinen Produktion bekommen sollte, denn nach marxistischer Sichtweise wird die Verteilung von Gütern nicht nach unveränderlichen ethischen Prinzipien geregelt, sondern durch die jeweilige Phase des Klassenkampfes bestimmt, der seinerseits von der herrschenden Produktionsweise diktiert werden soll. Daher glaubt der Marxismus, dass die Sklaverei, und der Tod des Sklaven unter der Peitsche, und der Raub der Früchte seiner Arbeit Dinge sind, die man unter den Bedingungen des Klassenkampfes zwischen Sklaven und deren Herren in Kauf nehmen muss. Nach diesem marxistischen Prinzip muss der Anteil an der Verteilung von Gütern für die dritte Gruppe im Lichte ihrer Klassenposition gesehen werden, da die jedem Einzelnen zugeteilten Güter durch dessen klassenspezifische Position in der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung bestimmt wird. Und da die dritte Gruppe weder über Eigentum an Produktionsmitteln noch über die Fähigkeit zu produktiver Arbeit verfügt, kann sie keiner der beiden antagonistischen Klassen (der Kapitalistenklasse oder der Arbeiterklasse) zugerechnet werden, und sie hat keinen Anteil am Sieg der Arbeiterklasse und der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft. Da die von Natur aus arbeitsunfähigen Personen vom Klassenkampf zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern ausgeschlossen sind, und folglich von der Arbeiterklasse, die in der sozialistischen Phase die Produktionsmittel kontrollieren soll, gibt es nach der wissenschaftlich-marxistischen Methode keine Erklärung, die einen Anteil dieser Merkmale an der Verteilung von Gütern, über welche die Arbeiterklasse verfügt, oder überhaupt deren Recht zu leben, rechtfertigen würde, denn sie stehen außerhalb des Rahmens des Klassenkampfes. Und so ist der Marxismus nicht imstande, seine besondere Methode, das Leben und den Lebensunterhalt der dritten Gruppe in der sozialistischen Phase zu garantieren, theoretisch zu begründen.

Dagegen definiert der Islam den Verteilungsprozess nicht auf der Grundlage des innergesellschaftlichen Klassenkampfes, sondern mit Blick auf das höchste Ideal der glücklichen Gesellschaft und auf der Basis unveränderlicher ethischer Werte, so dass die Verteilung von Gütern in einer Form geschehen muss, die diese Werte in die Praxis umsetzt und dieses Ideal verwirklicht, und die Leiden der Entbehrung soweit wie möglich vermindert. Der auf solchen Vorstellungen begründete Prozess der Verteilung bezieht naturgemäß die dritte Gruppe mit ein, in ihrer Eigenschaft als Teil der menschlichen Gemeinschaft, unter der die Vermögenswerte in einer Art und Weise verteilt werden müssen, welche die Leiden der Entbehrung so weit wie möglich zurückdrängt, und das Ideal der glücklichen Gesellschaft, bzw. die ethischen Werte, auf denen der Islam die sozialen Beziehungen begründet, verwirklicht. So ist es nur natürlich, dass die Bedürfnisse dieser benachteiligten Gruppe als ausreichender Grund für ihr Recht auf Leben und als Kriterium für die Verteilung von Gütern an sie angesehen werden, wie auch der Heilige Qur´an darauf hinweist:

Und von ihrem Vermögen steht ein gewisser Teil dem Bettler und dem Bedürftigen zu...“[1]

[1] Heiliger Qur´an 51:19

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de