Bedürftigkeit gemäß islamischer und
marxistisch-sozialistischer Sicht
Der
Sozialismus, der fordert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten
und jedem nach seiner Arbeitsleistung“, baut auf die
Arbeit als prinzipielles Kriterium bei der Güterverteilung, so
dass jedem Arbeiter das Produkt seiner Arbeit zusteht,
gleichgültig wie unbedeutend oder bedeutend es sein mag. Damit
spielt die Bedürftigkeit bei der Verteilung keine Rolle mehr,
denn der Anteil des Arbeitenden wird nicht durch seine
Bedürftigkeit begrenzt, wenn er durch seine Arbeit mehr
produziert als er benötigt, und er bekommt nicht genug, um
seine Bedürfnisse voll zu befriedigen, wenn seine Arbeit nicht
die produktive Leistung erbringt, die dem Gegenwert dieser
Bedürfnisse entspricht. Jeder Einzelne erhält also den
Gegenwert seiner Arbeit, unabhängig von seinen Bedürfnissen
und von der Höhe des Wertes, den die Arbeit erzielt. Dies
widerspricht der islamischen Beurteilung der Bedürfnisse, denn
diese spielen nach islamischer Sichtweise eine wichtige und
positive Rolle, d.h. wenn sie auch nicht bedingen, dass dem
begabten Arbeiter die Früchte seiner Arbeit vorenthalten
werden, wenn die seinen Bedarf übertreffen, bestimmen sie doch
wirksam den Anteil, der an die zweite Gruppe in der
Gesellschaft verteilt wird, die wir soeben vorgestellt haben,
nämlich an diejenigen, deren geistige und körperliche
Fähigkeiten nur dazu ausreichen, ihnen das lebensnotwendige
Minimum zu verschaffen. Diese Gruppe muss sich nach
marxistisch-sozialistischen Wirtschaftsprinzipien mit dem
kümmerlichen Ertrag ihrer Arbeit begnügen, wobei große
Unterschiede zwischen ihrem Lebensstandard und dem der ersten
Gruppe, die sich ein Leben im Wohlstand erarbeiten kann, in
Kauf genommen werden; denn im Sozialismus bestimmt die Arbeit
über die Einkommensverteilung, und der Arbeiter darf keinen
höheren Lebensstandard erwarten als den, den ihm seine
Arbeitsleistung verschafft. Unter der islamischen
Wirtschaftsordnung ist die Situation anders, denn der Islam
beschränkt sich bei der Organisation des Verteilungssystems
nicht auf das Kriterium der Arbeit, sondern bezieht dich
Bedürftigkeit mit ein, und er sieht die Unfähigkeit der
zweiten Gruppe, sich einen angemessenen Lebensstandard zu
sichern, als eine Art von Bedürftigkeit an, und setzt
bestimmte Mittel und Wege fest, um diesen Status der
Bedürftigkeit zu überwinden. Dem begabten und vom Glück
begünstigten Arbeiter werden also die Früchte seiner Arbeit,
sofern sie über seine Bedürfnisse hinausgehen, nicht
vorenthalten, aber derjenige, der sich durch seine
Arbeitskraft nur das Existenzminimum sichern kann, wird mehr
bekommen, als er selbst produziert.
Ein
weiterer Unterschied zwischen der Denkweise des Islam und der
des marxistischen Sozialismus besteht in der jeweiligen
Haltung gegenüber der dritten Gruppe der Gesellschaft, die
aufgrund ihrer naturgegebenen geistigen oder körperlichen
Mängel von der Arbeit ausgeschlossen sind. Die
Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Islam und dem
marxistischen Sozialismus über diese Gruppe der
Ausgeschlossenen entstehen durch die gegensätzlichen Konzepte
für das System der Güterverteilung. Ich möchte mich in diesem
Zusammenhang nicht mit der Haltung befassen, die die heutige
sozialistische Welt gegenüber dieser dritten Gruppe einnimmt,
und ich möchte nicht Behauptungen wiederholen, die besagen,
der arbeitsunfähige Mensch sei in der sozialistischen
Gesellschaft zum Hungertod verurteilt, denn ich möchte die
Frage mit Blick auf die Theorie und nicht auf die Praxis
erörtern, und nicht die Verantwortung für die Behauptungen
übernehmen, welche die Feinde der sozialistischen Welt ständig
ins Feld führen. Die marxistisch-sozialistische
Wirtschaftslehre kann die Existenzberechtigung der dritten
Gruppe nicht theoretisch erklären, und nicht rechtfertigen,
wieso sie einen Anteil von der allgemeinen Produktion bekommen
sollte, denn nach marxistischer Sichtweise wird die Verteilung
von Gütern nicht nach unveränderlichen ethischen Prinzipien
geregelt, sondern durch die jeweilige Phase des Klassenkampfes
bestimmt, der seinerseits von der herrschenden
Produktionsweise diktiert werden soll. Daher glaubt der
Marxismus, dass die Sklaverei, und der Tod des Sklaven unter
der Peitsche, und der Raub der Früchte seiner Arbeit Dinge
sind, die man unter den Bedingungen des Klassenkampfes
zwischen Sklaven und deren Herren in Kauf nehmen muss. Nach
diesem marxistischen Prinzip muss der Anteil an der Verteilung
von Gütern für die dritte Gruppe im Lichte ihrer
Klassenposition gesehen werden, da die jedem Einzelnen
zugeteilten Güter durch dessen klassenspezifische Position in
der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung bestimmt wird.
Und da die dritte Gruppe weder über Eigentum an
Produktionsmitteln noch über die Fähigkeit zu produktiver
Arbeit verfügt, kann sie keiner der beiden antagonistischen
Klassen (der Kapitalistenklasse oder der Arbeiterklasse)
zugerechnet werden, und sie hat keinen Anteil am Sieg der
Arbeiterklasse und der Errichtung der sozialistischen
Gesellschaft. Da die von Natur aus arbeitsunfähigen Personen
vom Klassenkampf zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern
ausgeschlossen sind, und folglich von der Arbeiterklasse, die
in der sozialistischen Phase die Produktionsmittel
kontrollieren soll, gibt es nach der
wissenschaftlich-marxistischen Methode keine Erklärung, die
einen Anteil dieser Merkmale an der Verteilung von Gütern,
über welche die Arbeiterklasse verfügt, oder überhaupt deren
Recht zu leben, rechtfertigen würde, denn sie stehen außerhalb
des Rahmens des Klassenkampfes. Und so ist der Marxismus nicht
imstande, seine besondere Methode, das Leben und den
Lebensunterhalt der dritten Gruppe in der sozialistischen
Phase zu garantieren, theoretisch zu begründen.
Dagegen
definiert der Islam den Verteilungsprozess nicht auf der
Grundlage des innergesellschaftlichen Klassenkampfes, sondern
mit Blick auf das höchste Ideal der glücklichen Gesellschaft
und auf der Basis unveränderlicher ethischer Werte, so dass
die Verteilung von Gütern in einer Form geschehen muss, die
diese Werte in die Praxis umsetzt und dieses Ideal
verwirklicht, und die Leiden der Entbehrung soweit wie möglich
vermindert. Der auf solchen Vorstellungen begründete Prozess
der Verteilung bezieht naturgemäß die dritte Gruppe mit ein,
in ihrer Eigenschaft als Teil der menschlichen Gemeinschaft,
unter der die Vermögenswerte in einer Art und Weise verteilt
werden müssen, welche die Leiden der Entbehrung so weit wie
möglich zurückdrängt, und das Ideal der glücklichen
Gesellschaft, bzw. die ethischen Werte, auf denen der Islam
die sozialen Beziehungen begründet, verwirklicht. So ist es
nur natürlich, dass die Bedürfnisse dieser benachteiligten
Gruppe als ausreichender Grund für ihr Recht auf Leben und als
Kriterium für die Verteilung von Gütern an sie angesehen
werden, wie auch der Heilige Qur´an darauf hinweist:
„Und von ihrem Vermögen steht ein
gewisser Teil dem Bettler und dem Bedürftigen zu...“