Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Irreführung durch die reale Praxis

Die islamische Wirtschaftsideologie wurde zur Zeit des Prophetentums Muhammads (s.) erstmals zur herrschenden Ordnung einer Gesellschaft, und ihre praktische Anwendung verkörperte sich in realen wirtschaftlichen Beziehungen, die zwischen den Individuen der damaligen islamischen Gesellschaft bestand. Daher ist es möglich – bei dem Verfahren zur Herausfindung der islamischen Wirtschaftsideologie – dass wir diese auf der praktischen Ebene untersuchen und erörtern, parallel zur Untersuchung auf der theoretischen Ebene; denn die historische Praxis zeigt die Charakteristika und Besonderheiten der islamischen Wirtschaft ebenso, wie die theoretischen Texte im Bereich der Gesetzgebung sie definieren. Die gesetzgeberischen Textquellen sind aber besser geeignet, ein Bild von der Ideologie zu vermitteln, als die reale Praxis, denn die Befolgung der Anweisungen des jeweiligen gesetzgeberischen Textes unter bestimmten Rahmenbedingungen kann möglicherweise nicht die immense Bedeutung dieses Textes widerspiegeln, und nicht vollständig seine Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben aufzeigen. So unterscheidet sich das Bild von der Theorie, so wie es die frühislamische Praxis nahezulegen scheint, vom dem Ergebnis der Reflektion über die gesetzgeberischen Textquellen selbst, und dieser Gegensatz erklärt sich dadurch, dass die frühislamische Praxis der Untersuchungen zu falschen Schlüssen verleitet, denn die Praxis steht immer im Zusammenhang mit besonderen objektiven Begleitumständen.

Ein hinreichendes Beispiel für diese Irreführung zeigt sich daran, dass es jemandem, der den Charakter der islamischen Wirtschaftsideologie anhand der Untersuchung der frühislamischen Praxis feststellen will, so erscheinen mag, als ob die islamische Wirtschaft kapitalistisch strukturiert sei, d.h. prinzipiell an die wirtschaftliche Freiheit glaube und dem Privateigentum und den Aktivitäten des Einzelnen große Freiräume eröffne. Soweit gehen manche islamische Denker – in aller Offenheit – wenn sie sich die Individuen der Gesellschaft, in der die islamische Wirtschaftsordnung praktiziert wurde als frei in ihren Handlungen vorstellen, so als ob sie keinerlei Zwang und Beschränkung empfanden, und das Recht auf Eigentum an jedweden Reichtümern der Natur, derer sie habhaft werden konnten, ebenso wie das Recht auf deren uneingeschränkte Nutzung und freie Verfügung besessen hätten; demnach entspräche diese freie Ungebundenheit, wie sie die Mitglieder der islamischen Gesellschaft in ihrem wirtschaftlichen Leben praktiziert hätten, genau dem Kapitalismus. Und einige behaupten darüber hinaus, dass jemand, der anti-kapitalistische Elemente in die islamische Wirtschaftsideologie einbringt und sagt, der Islam sei in seiner Wirtschaftsordnung sozialistisch, bzw. der Sozialismus sei in ihm angelegt bei seiner Untersuchung nicht zuverlässig arbeite, sondern diese nur einer neuen Denkweise anpasse, die beginnt, den Kapitalismus zu verschmähen und ihn abzulehnen, indem er dazu aufruft, den Islam so zu modifizieren, dass er nach den Maßstäben dieser neuen Denkweise passabel erscheinen kann.

Ich streite nicht ab, dass sich der Einzelne in der Gesellschaft zur Wirkzeit des Propheten Muhammad (s.) frei entfalten konnte und im wirtschaftlichen Bereich ein bedeutendes Maß an Freiheit besaß, und auch nicht, dass dies möglicherweise einen kapitalistischen Aspekt der islamischen Wirtschaft widerspiegelt. Aber diesen Aspekt, der uns auffällt, wenn wir aus der historischen Distanz einige Bereiche der Praxis betrachten, werden wir vielleicht überhaupt nicht empfinden, wenn wir (auf theoretischer Ebene) die den islamischen Bestimmungen zugrunde liegenden Theorien untersuchen. Es stimmt, dass es uns heute so erscheint, als ob der Einzelne, der zu Zeiten des Prophetentums Muhammads (s.) lebte, ein großes Maß an Freiheit genoss, das der Untersuchende vielleicht manchmal nicht von den kapitalistischen Freiheiten unterscheiden kann, aber dieses Trugbild wird hinfällig, wenn wir die Praxis mit der ihr zugrunde liegenden Theorie, d.h. mit den gesetzgeberischen Textquellen, in Beziehung setzen. Der Schlüssel zu der scheinbaren Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, obwohl doch beide in gewisser Hinsicht sich gegenseitig entsprechen, liegt in den Umständen, unter denen der Mensch zur Zeit der untersuchten Praxis lebte, und in der Art von Möglichkeiten, die er hatte. So bleibt der anti-kapitalistische Gehalt der islamischen Wirtschaftstheorie in der Praxis in gewissem Maße verborgen, solange die Möglichkeiten des Menschen und seine Gestalt über die Natur gering sind, und die anti-kapitalistische Tendenz wird zunehmend deutlicher, und manifestierter sich in der getreulichen Praktizierung des Islam, in gleichem Maße wie jene Möglichkeiten sich ausweiten und jene Macht zunimmt. Denn je umfangreicher die Fähigkeiten des Menschen werden, und je vielfältiger seine Mittel zur Beherrschung der Natur, desto weitere Bereiche erschließen sich seiner Arbeit und seiner Ausbeutung, und der Widerspruch der islamischen Wirtschaftstheorie zum Kapitalismus wird immer offensichtlicher, wobei sich ihr anti-kapitalistischer Gehalt in den Lösungswegen manifestiert, die der Islam für die Probleme, die mit der wachsenden Naturbeherrschung des Menschen neu aufgetaucht sind, festsetzt.

So pflegt der Mensch zur Zeit der untersuchten Praxis z.B. eine Salzlagerstätte oder dergleichen aufzusuchen und soviel er wollte an mineralischen Rohstoffen davonzutragen, ohne dass ihn die herrschende Theorie daran gehindert, oder ihm das private Eigentum an jenen Rohstoffen aberkannt hätte. Welche Vorstellung könnte dieses Phänomen aus dem Bereich der Praxis nun aufkommen lassen, falls es ohne eine begleitende Untersuchung der gesetzgeberischen Textquellen und Schriften der Rechtswissenschaft [fiqh] zu diesem Thema zur Kenntnis genommen wird? Es vermittelt den Eindruck der Dominanz von wirtschaftlicher Freiheit in der Gesellschaft, die den kapitalistischen Zuständen von Freiheit der Aneignung und Ausnutzung von Gütern ähnlich ist. Wenn wir aber die aus den Textquellen zu entnehmende Theorie betrachten, entdecken wir, dass sie den entgegengesetzten Eindruck dieser Phänomene aus dem Bereich der Praxis vermittelt, denn die Theorie in den einschlägigen Textquellen verbietet die Aneignung von Salz- oder Erdöllagerstätten durch irgendwelche Individuen, und erlaubt es niemandem, mehr als die persönlich benötigte Menge daraus zu entnehmen. Dies ist ein klarer Widerspruch zum Kapitalismus, der das Prinzip des privaten Eigentums propagiert, und es dem Einzelnen anheim stellt, sich natürliche Ressourcen an Bodenschätzen anzueignen und zum Zweck der Gewinnmaximierung kapitalistisch auszubeuten. Kann nun irgendjemand eine Wirtschaftsideologie, die die Freiheit der Aneignung von Salz- oder Erdöllagerstätten nicht anerkennt, und es niemand erlaubt, aus diesen Fundorten so viel zu entnehmen, dass der Rohstoff für die anderen knapp wird, und deren Nutzungsrechte an der Lagerstätte beeinträchtigt werden, diese Wirtschaftsideologie als kapitalistisch bezeichnen?! Oder kann er in unserem Bewusstsein den Eindruck eines kapitalistischen Charakters dieser Ideologie erwecken, wie dieser Eindruck bei manchen angesichts der frühislamischen Praxis aufkommt?

Wir müssen also wissen: Der Mensch zur Zeit der frühislamischen Praxis konnte sich deshalb im Bereich der Arbeit an der Natur und deren Ausnutzung, und sogar bei der Ausbeutung von z.B. Salz- und Erdöllagerstätten, frei fühlen, weil er meistens – unter dem Zwang der natürlichen Umstände und des niedrigen technischen Niveaus seiner primitiven Hilfsmittel – nicht in der Lage war, mit seiner Arbeit und seinen Aktivitäten die Grenzen des von der Theorie Erlaubten zu überschreiten. Er konnte z.B. keine allzu großen Mengen von Bodenschätzen zutage fördern – vergleichbar mit den gewaltigen Mengen, die heutzutage gefördert werden – weil er nicht wie der Mensch der Neuzeit gegen die Natur ausgerüstet war, also geriet er in seinem realen Leben nicht mit den quantitativen Grenzen in Konflikt, die ihm bei der Entnahme von Bodenschätzen an ihren Fundorten gesetzt waren, denn wieviel er mit seinen primitiven Mitteln auch fördern mochte, es erreichte meistens nicht einen solchen Umfang, dass die anderen bei der gemeinsamen Ausnutzung der Lagerstätte beeinträchtigt worden wären.

Die Konsequenzen der Theorie treten erst dann ganz deutlich hervor und zeigen deren Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Denkweise, wenn die Möglichkeiten des Menschen zunehmen und seine Macht, die Natur zu erobern, wächst, so dass es möglich wird, dass wenige Menschen eine ganze Lagerstätte abräumen und dass sich auf den miteinander verbundenen und offenen Märkten der ganzen Welt die größten Gewinne erzielen lassen. Genau den gleichen Sachverhalt bemerken wir bei der Theorie, die dem Einzelnen nur soviel Eigentum an Naturschätzen und Rohstoffen – wie z.B. dem Holz der Wälder – gestattet, wie er durch direkte eigene Arbeit gewinnt und produziert. Der Mensch der frühislamischen Zeit konnte in seinem Arbeitsleben diese Theorie weder in ihrer Bedeutung noch in ihrer Tiefe verstehen, denn zu jener Zeit bedeutete Arbeit ganz allgemein direkte eigenhändige Arbeit mit allen Konsequenzen; aber als die Mengen, die gefördert bzw. gewonnen werden konnten, in gewaltigem Maße zunahmen, aufgrund der Werkzeuge und Maschinen, und weil auch die Geldmengen zur Verfügung standen, die zur Entlohnung einer großen Zahl von Arbeitern ausreichen, als all diese Voraussetzungen gegeben waren, bekam ein Einzelner potentiell die Macht, auf Lohnarbeit zurückzugreifen, um die natürlichen Reichtümer an Rohstoffen fördern bzw. gewinnen zu lassen. Diese Bedingungen sind heutzutage in der realen Umwelt gegeben, wo die Lohnarbeit und die kapitalistische Produktionsweise die Grundlage der Förderung und Gewinnung jener Rohstoffe geworden sind. Erst dadurch tritt die Unvereinbarkeit der islamischen Theorie über die Wirtschaft mit dem Kapitalismus unmissverständlich zutage, und es wird jedem Untersuchenden – wenn er nicht blind ist – klar, dass diese Theorie keinen kapitalistischen Charakter hat, oder welche kapitalistische Wirtschaftslehre bekämpft die kapitalistische Methode der Gewinnung von Naturschätzen?!

Nehmen wir einen Menschen des Zeitalters der kapitalistischen Produktionsweise an, der Maschinen besitzt, die gewaltige Mengen vom Holz der Wälder in einer Stunde fällen können, der genügend Geld zur Verfügung hat, um arbeitslose Menschen anzureizen, für ihn zu arbeiten, und diese Maschinen zum Holzfällen zu benutzen, der über die Transportmittel verfügt, um jene gewaltigen Mengen zu den Verkaufsplätzen zu transportieren, und der Märkte vorfindet, die diese Mengen aufnehmen. Dieser Mensch wird, sofern er ein islamisches Leben führt, bemerken, wie sehr die Wirtschaftstheorie im Islam dem kapitalistischen Prinzip des wirtschaftlichen Liberalismus widerspricht, denn die Theorie erlaubt es ihm nicht, ein kapitalistisches Unternehmen zum Holzeinschlagen im Wald zu etablieren und das Holz so teuer wie möglich zu verkaufen. Die Theorie zeigte ihr vollständiges Gesicht also noch nicht zu der Zeit, als sie erstmals praktiziert wurde, und dem Einzelnen, der zu jener Zeit lebte, konnten all deren Implikationen aus den Problemen und Aktivitäten, mit denen er in seinem Leben zu tun hatte, nicht ersichtlich werden, sondern das vollständige Bild mit seinen allgemein umrissenen Formen wird erst aus den Textquellen verständlich.

Diejenigen, die davon überzeugt sind, dass die islamische Wirtschaftsideologie kapitalistisch sei und an die kapitalistischen Freiheiten glaube, sind vielleicht teilweise entschuldigt, wenn sie im Verlauf einer Untersuchung des Menschen der frühislamischen Zeit und dessen Gefühl von wirtschaftlicher Freiheit zu diesem Eindruck gekommen sind, aber dieser Eindruck täuscht, denn die durch die damalige Praxis inspirierte Vorstellung ist kein Ersatz für eine Untersuchung des Gehaltes der gesetzgeberischen Textquellen und Schriften der Rechtswissenschaft [fiqh] selbst, die deren anti-kapitalistische Tendenz enthüllt. Tatsächlich ist die Überzeugung, dass die Wirtschaftstheorie im Islam einen anti-kapitalistischen Gehalt hat, wie wir es beschrieben haben, nicht das Ergebnis einer Verdrehung, einer Ausschmückung oder einer Neuformulierung der Theorie aus persönlichen Motiven wie jene behaupten, die an den kapitalistischen Charakter der islamischen Wirtschaft glauben, die die Tendenz, die islamische Wirtschaftsideologie als anti-kapitalistisch zu interpretieren, der Heuchelei bezichtigen und behaupten, letztere versuche fremde Elemente in den Islam einzubringen, um einer modischen Denkweise zu schmeicheln, welche die kapitalistischen Konzepte von Freiheit und Eigentum zu verurteilen pflegt. Und wir besitzen historische Belege, um diese Vorwürfe zu entkräften und die Zuverlässigkeit der Interpretation, die der islamischen Wirtschaftsideologie eine anti-kapitalistische Tendenz zuschreibt, zu bestätigen, nämlich in Form der Texte des islamischen Rechts [scharia] und der Rechtswissenschaft [fiqh], die wir in alten Quellen finden, welche sich historisch auf eine Zeit viele Jahrhunderte vor der Existenz der modernen Welt und des modernen Sozialismus, mit allen seinen Ideologien und Konzepten, zurückführen lassen.

Wenn wir den anti-kapitalistischen Aspekt der islamischen Wirtschaftsideologie, die in diesem Buch dargelegt wird, herausstellen, und die Unterschiede zwischen ihr und der kapitalistischen Wirtschaftsideologie bekräftigen, wollen wir damit nicht der islamischen Wirtschaftslehre sozialistischen Charakter verleihen und sie in den Rahmen der sozialistischen Ideologie, als der Antithese zum Kapitalismus, einfügen, denn der zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestehende Gegensatz, der sie wie zwei Pole erscheinen lässt, erlaubt die Annahme eines dritten Pols (in diesem Gegensatz), und es steht der islamischen Wirtschaftsideologie im besonderen zu, diesen Platz des dritten Pols einzunehmen, wenn sich anhand ihrer speziellen Merkmale und Charakteristika belegen lässt, dass sie geeignet ist, den beiden anderen in einem derartigen Dreieck der Gegensätze gegenübergestellt zu werden. Die Widersprüche lassen die Einführung eines dritten Pols (auf dem Feld) zu, weil der Sozialismus nicht einfach nur die Gegenthese zum Kapitalismus ist, so dass man nur den Kapitalismus abzulehnen brauchte, um ein Sozialist zu sein, sondern eine positive Ideologie mit eigenen Ideen, Begriffsinhalten und Theorien; und diese Ideen, Begriffsinhalte und Theorien brauchen nicht unbedingt richtig zu sein, falls die des Kapitalismus falsch sind. Ebenso wenig muss der Islam sozialistisch sein, wenn er nicht kapitalistisch ist. Also wäre unsere Studie, welche die Herausarbeitung der islamischen Wirtschaftsideologie bezweckt, weder originell noch unabhängig noch objektiv, wenn wir uns dabei auf den speziellen Rahmen des Widerspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus beschränken und die islamische Wirtschaftsideologie einem der beiden gegensätzlichen Pole zuordnen würden, um sie dann vorschnell als Sozialismus zu qualifizieren, wenn sie nicht kapitalistisch, und als Kapitalismus, wenn sie nicht sozialistisch ist.

Im Laufe der folgenden Kapitel wird die Originalität der islamischen Wirtschaftsideologie deutlich erkennbar werden, wie auch deren Widerspruch zum Sozialismus an ihrer Haltung zum Privateigentum ersichtlich wird, das der Islam achtet. Er billigt – innerhalb bestimmter Grenzen, die er aus seinen allgemeinen Theorien herleitet – weiterhin die Legitimität von Gewinn, der aus dem Eigentum an anderen Produktionsmitteln als der Arbeit entsteht, während der Sozialismus nur die Legitimität von Gewinn, der durch direkte eigene Arbeit entsteht, und nicht aus dem Eigentum an irgendwelchen sonstigen Produk­tions­mit­teln, anerkennt. Genau hier liegt in der Tat der Gegensatz zwischen der islamischen und der sozialistischen Wirtschaftstheorie, und alle widersprüchlichen Phänomen der beiden Ideologien entstehen aus dieser Logik, die zusehends deutlicher werden wird, wenn wir uns mit den Details befassen und alles genau ausführen werden.

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