Prinzip der sozialen Gerechtigkeit
Der dritte Eckpfeiler der islamischen
Wirtschaft ist die soziale Gerechtigkeit, die der Islam durch
die Ordnungselemente und Garantien konkretisiert, mit denen
das System der Vermögensverteilung in der islamischen
Gesellschaft ausgestattet ist, und die gewährleisten, dass die
Verteilung die islamische Gerechtigkeit verwirklicht und mit
den Werten, auf denen sie beruht, im Einklang steht. Und wenn
der Islam die soziale Gerechtigkeit zu einem der
Grundprinzipien macht, auf denen er seine Wirtschaftslehre
aufbaut, dann meint er nicht soziale Gerechtigkeit in
allgemeiner und abstrakter Bedeutung oder in einer Form, die
jeder Interpretation offensteht, und sie wird nicht dem
Ermessen der jeweiligen menschlichen Gesellschaften
überlassen, deren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit
entsprechend ihrer verschiedenen Konzepte von Zivilisationen
und ihrem jeweiligen Weltbild variieren. Vielmehr definierte
der Islam diesen Begriff genau in einem fest umrissenen
gesellschaftlichen Konzept, das sich dann in einer lebendigen
gesellschaftlichen Realität widerspiegeln konnte, deren
sämtliche Arterien und Venen mit dem islamischen Verständnis
von Gerechtigkeit pulsierten.
Es genügt also nicht, zu wissen, dass der
Islam zu sozialer Gerechtigkeit aufruft, sondern wir müssen
ebenfalls seine detaillierten Vorstellungen von Gerechtigkeit
und deren besondere islamische Bedeutung kennen. Das
islamische Konzept von sozialer Gerechtigkeit umfasst zwei
allgemeine Prinzipien, die jeweils in ihren Grundzügen und
Einzelheiten untersucht werden müssen, erstens das Prinzip der
allgemeinen gegenseitigen Verantwortung (Solidarität) und
zweitens da Prinzip des sozialen Gleichgewichts. Durch die
Solidarität und das Gleichgewicht, entsprechend dem
islamischen Begriffsinhalt, werden die sozialen Werte der
Gerechtigkeit verwirklicht und das islamische Ideal der
sozialen Gerechtigkeit erreicht, wie wir in einem späteren
Kapitel erfahren werden. Die Leitlinien, die der Islam während
seiner glorreichen geschichtlichen Praxis auf dem Weg zur
Schaffung einer besseren menschlichen Gesellschaft verfolgte,
zeigten klar und deutlich sein Bemühen um dieses vorrangige
Prinzip seiner Wirtschaftslehre. Dieses Motiv spiegelt sich
deutlich in der ersten Ansprache wider, die der Prophet
Muhammad (s.) hielt, und in der ersten politischen Handlung,
die er in seinem neuen Staat unternahm. Der größte Prophet
(s.) kleidete seine Anweisungen – gemäß der Überlieferung – in
folgende Rede:
„Ihr Leute, schickt gute Taten
voraus für euch selbst, ihr wisst sehr gut, bei Allah, dass er
euch jederzeit vernichten und eure Herde ohne Hirten
zurücklassen kann! Dann wird der Tote von seinem Herrn befragt
werden: „Hat dir mein Gesandter nicht die Botschaft überbracht
und habe Ich dir nicht Besitz gegeben und Gnade erwiesen?! Was
hast du nun vorausgeschickt?!“ Dann wird er nach rechts und
links blicken und nichts sehen, dann blickt er vor sich und
sieht nur die Hölle. Wer sein Gesicht aber durch gute Taten
vor dem Höllenfeuer bewahren kann – selbst wenn diese nicht
bedeutender wären als ein Stück einer Dattel – der soll es
tun. Wer aber nichts findet, was er als gute Tat spenden kann,
der soll ein gutgemeintes Wort sagen. Jede Tat wird zehnfach
oder siebenhundertfach vergolten. Und Friede sei mit euch und
Allahs Gnade und sein Segen!“
Und er begann seine politische Tätigkeit
damit, Brüderlichkeit zwischen den Auswanderern aus Mekka [al-muhadschirun]
und seinen Anhängern (Helfern) in Medina [al-ansar] zu
stiften und sie zu gegenseitiger Solidarität zu verpflichten,
um die soziale Gerechtigkeit, die der Islam anstrebt, zu
verwirklichen. Dieses sind also die Grundpfeiler der
islamischen Wirtschaft:
·
Erstens: Verschiedene Formen des
Eigentums, in deren Licht die Prinzipien der Güterverteilung
definiert sind.
·
Zweitens: Freiheit, die durch
die islamischen Wertemaßstäbe begrenzt wird, in den Bereichen
der Produktion, des Warentausches und des Konsums.
·
Drittens: Soziale Gerechtigkeit,
die das Wohlergehen aller sicherstellt und auf gegenseitiger
Verantwortung und sozialem Gleichgewicht beruht.
Die Wirtschaftslehre im Islam hat zwei
Hauptaspekte, die ihre Grundzüge wie auch ihre Details
auszeichnen, den realen und den moralischen Aspekt. Die
islamische Wirtschaftsordnung ist gleichzeitig realistisch und
moralisch, sowohl in ihren Zielen, deren Verwirklichung sie
anstrebt, als auch in der Methode, die sie dabei verfolgt. Es
ist eine Wirtschaftsordnung mit realistischer Zielsetzung,
denn sie verfolgt mit ihren Institutionen und Gesetzen Ziele,
die der Natur des Menschen, seinen Neigungen und seinen
allgemeinen Eigenschaften angemessen sind, und bemüht sich bei
ihren gesetzgeberischen Erwägungen immer, dem Menschen nicht
zu viel aufzubürden und nicht in utopische höhere Sphären zu
entschweben, wobei sie die Kräfte und Möglichkeiten des
Menschen überschätzen würde. Vielmehr baut sie ihr
wirtschaftliches Konzept immer auf einem realistischen
Menschenbild auf und verfolgt realistische Ziele, die mit
diesem Menschenbild übereinstimmen. Dagegen gefällt es einer
utopischen Wirtschaftslehre wie beispielsweise dem
Kommunismus, sich unrealistische Ziele zu setzen und die
Schaffung einer neuen Menschheit anzustreben, die, von allen
egoistischen Neigungen geläutert, fähig wäre, die Arbeiten und
Güter unter sich aufzuteilen, ohne dazu eines
Regierungsinstrumentes zu bedürfen, das die Verteilung
durchführt, und die frei wäre von jeder Art von
Interessengegensätzen und Konkurrenzkampf. Dies passt nicht
zur Natur der islamischen Gesetzgebung, die sich durch den
Realismus ihrer Zielsetzung auszeichnet. Und sie ist auch in
der Methode realistisch. Ebenso wie sie sich realisierbare
Ziele setzt, schafft sie auch geeignete materielle
Voraussetzungen für die Erreichung dieser Ziele und verlässt
sich nicht allein auf das Mittel der Ermahnung und Lenkung
durch Prediger und spirituelle Führer. Weil die islamischen
Leitbilder auch praktisch wirksam werden sollen, vertraut man
sie nicht der Gunst des Zufalls und der Spekulation an. Wenn
beispielsweise die Schaffung allgemeiner gegenseitiger
Verantwortlichkeit in der Gesellschaft angestrebt wird, greift
der Islam nicht nur zum Mittel der Unterweisung und
Mobilisierung der Gefühle, sondern stützt sich auf gesetzliche
Garantien, welche die Durchsetzung sozialer Solidarität auf
jeden Fall gewährleisten.
Der zweite Aspekt der islamischen
Wirtschaftslehre, der moralische Aspekt, bedeutet –
hinsichtlich seines Leitgedankens – dass der Islam seine
Ziele, die er für das Wirtschaftsleben der Gesellschaft
verfolgt, nicht aus materiellen Umständen und natürlichen
Bedingungen, unabhängig vom Menschen selbst, herleitet, wie
etwa der Marxismus seine Perspektive durch die
Produktionsbedingungen vorgezeichnet sieht ..., sondern dass
er diese Ziele als praktische Werte ansieht, die aus ethischen
Gründen verwirklicht werden müssen. Wenn er z.B. festsetzt,
dass der Lebensunterhalt der Arbeiter garantiert werden muss,
dann glaubt er nicht, dass diese soziale Sicherung etwa von
den materiellen Produktionsbedingungen abhängig wäre, sondern
betrachtet sie als einen konkreten moralischen Wert, der
verwirklicht werden muss. Wir werden dies an anderer Stelle
noch ausführlicher erörtern.
In methodischer Hinsicht bedeutet der
moralische Aspekt, dass der Islam bei dem Weg, den er zur
Erreichung seiner Ziele verfolgt, den psychologischen Faktor
berücksichtigt. Es geht ihm nicht nur um den objektiven Aspekt
– nämlich die Durchsetzung seiner Zielvorstellungen – sondern
er ist besonders darum bemüht, den psychologischen und
subjektiven Faktor in seine Methode miteinzubeziehen. So
könnte man z.B. den Reichen soviel von ihrem Besitz wegnehmen,
dass damit die Bedürfnisse der Armen befriedigt werden könnten
und das objektive Ziel, das sich die islamische Wirtschaft mit
dem Prinzip der sozialen Verantwortlichkeit gesetzt hat,
erreicht würde. Damit ist es nach islamischen Maßstäben aber
nicht getan, es kommt auf die Methode an, mit der soziale
Solidarität verwirklicht wird. Die Methode könnte nämlich
lediglich darin bestehen, Gewalt anzuwenden und von den
Reichen eine Art Bürgerschaftssteuer für die Armen
einzutreiben. Das würde zwar ausreichen, um den objektiven
Aspekt des Problems zu lösen, d.h. die Befriedigung der
Bedürfnisse der Armen zu gewährleisten ... aber der Islam
billigt das nicht, solange die Methode zur Erreichung der
sozialen Solidarität auf die moralische Motivation und auf den
Faktor des Guten in der Seele des Reichen verzichtet. Deshalb
griff der Islam ein und machte aus den Vermögensabgaben – mit
denen Verantwortlichkeit geschaffen werden soll – religiöse
Pflichten, die einem lichtvollen seelischen Antrieb
entspringen müssen, der den Menschen zum freiwilligen
Engagement für die Verwirklichung der Ziele der islamischen
Wirtschaft veranlasst, bewusst und absichtlich, um das
Wohlgefallen Allahs und seine Nähe zu erlangen.
Es ist kein Wunder, dass der Islam so
sehr um den seelischen Faktor bemüht ist und ein so starkes
Interesse an dessen moralisch-geistiger Entwicklung im Sinne
seiner Ziele und Vorstellungen hat, denn die subjektiven
Antriebe in der Seele des Menschen spielen naturgemäß eine
große Rolle bei der Formung seiner Persönlichkeit und seines
spirituellen Innenlebens, wie auch der subjektive Faktor
großen Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben und
dessen Probleme, bzw. die Lösung dieser Probleme, hat.
Heutzutage ist es jedermann klar, dass der psychologische
Faktor eine wesentliche Rolle im wirtschaftlichen Bereich
spielt; so bewirkt er etwa das periodische Auftreten von
Krisen, welche die europäischen Volkswirtschaften erschüttern.
Er beeinflusst gleichfalls das Ungleichgewicht von Angebot und
Nachfrage, die Produktivkraft des Arbeiters und weitere
wirtschaftliche Probleme. Der Islam – mit seiner Ideologie und
seinen Lehren – beschränkt sich also nicht auf die äußere
Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, sondern wirkt bis in
dessen seelisch-geistige Tiefen, um sein wirtschaftliches
Konzept mit der inneren menschlichen Konstitution in Einklang
zu bringen. Er gibt sich nicht damit zufrieden, seine
objektiven Ziele mit irgendeiner Methode zu erreichen, sondern
er bezieht den psychologischen Faktor und den subjektiven
Antrieb in seine Vorgehensweise mit ein, so dass beide mit
seinen Zielen und Vorstellungen harmonieren.