Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Prinzip der sozialen Gerechtigkeit

Der dritte Eckpfeiler der islamischen Wirtschaft ist die soziale Gerechtigkeit, die der Islam durch die Ordnungselemente und Garantien konkretisiert, mit denen das System der Vermögensverteilung in der islamischen Gesellschaft ausgestattet ist, und die gewährleisten, dass die Verteilung die islamische Gerechtigkeit verwirklicht und mit den Werten, auf denen sie beruht, im Einklang steht. Und wenn der Islam die soziale Gerechtigkeit zu einem der Grundprinzipien macht, auf denen er seine Wirtschaftslehre aufbaut, dann meint er nicht soziale Gerechtigkeit in allgemeiner und abstrakter Bedeutung oder in einer Form, die jeder Interpretation offensteht, und sie wird nicht dem Ermessen der jeweiligen menschlichen Gesellschaften überlassen, deren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit entsprechend ihrer verschiedenen Konzepte von Zivilisationen und ihrem jeweiligen Weltbild variieren. Vielmehr definierte der Islam diesen Begriff genau in einem fest umrissenen gesellschaftlichen Konzept, das sich dann in einer lebendigen gesellschaftlichen Realität widerspiegeln konnte, deren sämtliche Arterien und Venen mit dem islamischen Verständnis von Gerechtigkeit pulsierten.

Es genügt also nicht, zu wissen, dass der Islam zu sozialer Gerechtigkeit aufruft, sondern wir müssen ebenfalls seine detaillierten Vorstellungen von Gerechtigkeit und deren besondere islamische Bedeutung kennen. Das islamische Konzept von sozialer Gerechtigkeit umfasst zwei allgemeine Prinzipien, die jeweils in ihren Grundzügen und Einzelheiten untersucht werden müssen, erstens das Prinzip der allgemeinen gegenseitigen Verantwortung (Solidarität) und zweitens da Prinzip des sozialen Gleichgewichts. Durch die Solidarität und das Gleichgewicht, entsprechend dem islamischen Begriffsinhalt, werden die sozialen Werte der Gerechtigkeit verwirklicht und das islamische Ideal der sozialen Gerechtigkeit erreicht, wie wir in einem späteren Kapitel erfahren werden. Die Leitlinien, die der Islam während seiner glorreichen geschichtlichen Praxis auf dem Weg zur Schaffung einer besseren menschlichen Gesellschaft verfolgte, zeigten klar und deutlich sein Bemühen um dieses vorrangige Prinzip seiner Wirtschaftslehre. Dieses Motiv spiegelt sich deutlich in der ersten Ansprache wider, die der Prophet Muhammad (s.) hielt, und in der ersten politischen Handlung, die er in seinem neuen Staat unternahm. Der größte Prophet (s.) kleidete seine Anweisungen – gemäß der Überlieferung – in folgende Rede:

Ihr Leute, schickt gute Taten voraus für euch selbst, ihr wisst sehr gut, bei Allah, dass er euch jederzeit vernichten und eure Herde ohne Hirten zurücklassen kann! Dann wird der Tote von seinem Herrn befragt werden: „Hat dir mein Gesandter nicht die Botschaft überbracht und habe Ich dir nicht Besitz gegeben und Gnade erwiesen?! Was hast du nun vorausgeschickt?!“ Dann wird er nach rechts und links blicken und nichts sehen, dann blickt er vor sich und sieht nur die Hölle. Wer sein Gesicht aber durch gute Taten vor dem Höllenfeuer bewahren kann – selbst wenn diese nicht bedeutender wären als ein Stück einer Dattel – der soll es tun. Wer aber nichts findet, was er als gute Tat spenden kann, der soll ein gutgemeintes Wort sagen. Jede Tat wird zehnfach oder siebenhundertfach vergolten. Und Friede sei mit euch und Allahs Gnade und sein Segen!“

Und er begann seine politische Tätigkeit damit, Brüderlichkeit zwischen den Auswanderern aus Mekka [al-muhadschirun] und seinen Anhängern (Helfern) in Medina [al-ansar] zu stiften und sie zu gegenseitiger Solidarität zu verpflichten, um die soziale Gerechtigkeit, die der Islam anstrebt, zu verwirklichen. Dieses sind also die Grundpfeiler der islamischen Wirtschaft:

·           Erstens: Verschiedene Formen des Eigentums, in deren Licht die Prinzipien der Güterverteilung definiert sind.

·           Zweitens: Freiheit, die durch die islamischen Wertemaßstäbe begrenzt wird, in den Bereichen der Produktion, des Warentausches und des Konsums.

·           Drittens: Soziale Gerechtigkeit, die das Wohlergehen aller sicherstellt und auf gegenseitiger Verantwortung und sozialem Gleichgewicht beruht.

Die Wirtschaftslehre im Islam hat zwei Hauptaspekte, die ihre Grundzüge wie auch ihre Details auszeichnen, den realen und den moralischen Aspekt. Die islamische Wirtschaftsordnung ist gleichzeitig realistisch und moralisch, sowohl in ihren Zielen, deren Verwirklichung sie anstrebt, als auch in der Methode, die sie dabei verfolgt. Es ist eine Wirtschaftsordnung mit realistischer Zielsetzung, denn sie verfolgt mit ihren Institutionen und Gesetzen Ziele, die der Natur des Menschen, seinen Neigungen und seinen allgemeinen Eigenschaften angemessen sind, und bemüht sich bei ihren gesetzgeberischen Erwägungen immer, dem Menschen nicht zu viel aufzubürden und nicht in utopische höhere Sphären zu entschweben, wobei sie die Kräfte und Möglichkeiten des Menschen überschätzen würde. Vielmehr baut sie ihr wirtschaftliches Konzept immer auf einem realistischen Menschenbild auf und verfolgt realistische Ziele, die mit diesem Menschenbild übereinstimmen. Dagegen gefällt es einer utopischen Wirtschaftslehre wie beispielsweise dem Kommunismus, sich unrealistische Ziele zu setzen und die Schaffung einer neuen Menschheit anzustreben, die, von allen egoistischen Neigungen geläutert, fähig wäre, die Arbeiten und Güter unter sich aufzuteilen, ohne dazu eines Regierungsinstrumentes zu bedürfen, das die Verteilung durchführt, und die frei wäre von jeder Art von Interessengegensätzen und Konkurrenzkampf. Dies passt nicht zur Natur der islamischen Gesetzgebung, die sich durch den Realismus ihrer Zielsetzung auszeichnet. Und sie ist auch in der Methode realistisch. Ebenso wie sie sich realisierbare Ziele setzt, schafft sie auch geeignete materielle Voraussetzungen für die Erreichung dieser Ziele und verlässt sich nicht allein auf das Mittel der Ermahnung und Lenkung durch Prediger und spirituelle Führer. Weil die islamischen Leitbilder auch praktisch wirksam werden sollen, vertraut man sie nicht der Gunst des Zufalls und der Spekulation an. Wenn beispielsweise die Schaffung allgemeiner gegenseitiger Verantwortlichkeit in der Gesellschaft angestrebt wird, greift der Islam nicht nur zum Mittel der Unterweisung und Mobilisierung der Gefühle, sondern stützt sich auf gesetzliche Garantien, welche die Durchsetzung sozialer Solidarität auf jeden Fall gewährleisten.

Der zweite Aspekt der islamischen Wirtschaftslehre, der moralische Aspekt, bedeutet – hinsichtlich seines Leitgedankens – dass der Islam seine Ziele, die er für das Wirtschaftsleben der Gesellschaft verfolgt, nicht aus materiellen Umständen und natürlichen Bedingungen, unabhängig vom Menschen selbst, herleitet, wie etwa der Marxismus seine Perspektive durch die Produktionsbedingungen vorgezeichnet sieht ..., sondern dass er diese Ziele als praktische Werte ansieht, die aus ethischen Gründen verwirklicht werden müssen. Wenn er z.B. festsetzt, dass der Lebensunterhalt der Arbeiter garantiert werden muss, dann glaubt er nicht, dass diese soziale Sicherung etwa von den materiellen Produktionsbedingungen abhängig wäre, sondern betrachtet sie als einen konkreten moralischen Wert, der verwirklicht werden muss. Wir werden dies an anderer Stelle noch ausführlicher erörtern.

In methodischer Hinsicht bedeutet der moralische Aspekt, dass der Islam bei dem Weg, den er zur Erreichung seiner Ziele verfolgt, den psychologischen Faktor berücksichtigt. Es geht ihm nicht nur um den objektiven Aspekt – nämlich die Durchsetzung seiner Zielvorstellungen – sondern er ist besonders darum bemüht, den psychologischen und subjektiven Faktor in seine Methode miteinzubeziehen. So könnte man z.B. den Reichen soviel von ihrem Besitz wegnehmen, dass damit die Bedürfnisse der Armen befriedigt werden könnten und das objektive Ziel, das sich die islamische Wirtschaft mit dem Prinzip der sozialen Verantwortlichkeit gesetzt hat, erreicht würde. Damit ist es nach islamischen Maßstäben aber nicht getan, es kommt auf die Methode an, mit der soziale Solidarität verwirklicht wird. Die Methode könnte nämlich lediglich darin bestehen, Gewalt anzuwenden und von den Reichen eine Art Bürgerschaftssteuer für die Armen einzutreiben. Das würde zwar ausreichen, um den objektiven Aspekt des Problems zu lösen, d.h. die Befriedigung der Bedürfnisse der Armen zu gewährleisten ... aber der Islam billigt das nicht, solange die Methode zur Erreichung der sozialen Solidarität auf die moralische Motivation und auf den Faktor des Guten in der Seele des Reichen verzichtet. Deshalb griff der Islam ein und machte aus den Vermögensabgaben – mit denen Verantwortlichkeit geschaffen werden soll – religiöse Pflichten, die einem lichtvollen seelischen Antrieb entspringen müssen, der den Menschen zum freiwilligen Engagement für die Verwirklichung der Ziele der islamischen Wirtschaft veranlasst, bewusst und absichtlich, um das Wohlgefallen Allahs und seine Nähe zu erlangen.

Es ist kein Wunder, dass der Islam so sehr um den seelischen Faktor bemüht ist und ein so starkes Interesse an dessen moralisch-geistiger Entwicklung im Sinne seiner Ziele und Vorstellungen hat, denn die subjektiven Antriebe in der Seele des Menschen spielen naturgemäß eine große Rolle bei der Formung seiner Persönlichkeit und seines spirituellen Innenlebens, wie auch der subjektive Faktor großen Einfluss auf das gesellschaftliche Zusammenleben und dessen Probleme, bzw. die Lösung dieser Probleme, hat. Heutzutage ist es jedermann klar, dass der psychologische Faktor eine wesentliche Rolle im wirtschaftlichen Bereich spielt; so bewirkt er etwa das periodische Auftreten von Krisen, welche die europäischen Volkswirtschaften erschüttern. Er beeinflusst gleichfalls das Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage, die Produktivkraft des Arbeiters und weitere wirtschaftliche Probleme. Der Islam – mit seiner Ideologie und seinen Lehren – beschränkt sich also nicht auf die äußere Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, sondern wirkt bis in dessen seelisch-geistige Tiefen, um sein wirtschaftliches Konzept mit der inneren menschlichen Konstitution in Einklang zu bringen. Er gibt sich nicht damit zufrieden, seine objektiven Ziele mit irgendeiner Methode zu erreichen, sondern er bezieht den psychologischen Faktor und den subjektiven Antrieb in seine Vorgehensweise mit ein, so dass beide mit seinen Zielen und Vorstellungen harmonieren.

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