Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Unterschied zwischen einem Entdeckungsprozess und einem synthetischen Prozess

Unsere Vorgehensweise bei der Untersuchung der Wirtschaftslehre des Islam unterscheidet sich von der Arbeitsweise sonstiger Pioniere der Formulierung von Ideologien, denn der islamische Forscher spürt von Beginn an den grundsätzlichen Unterschied zwischen seinem Ansatz beim Versuch, diese Aufgabe zu lösen, und dem Ansatz irgendwelcher sonstiger (ideologischer) Forscher, die ideologische Abhandlungen über Wirtschaftsfragen verfassen und eine bestimmte Wirtschaftsideologie, wie den Kapitalismus oder Sozialismus, propagieren. Dieser grundsätzlicher Unterschied bestimmt für beide Arten der ideologischen Abhandlung, für die islamische und die nichtislamische, die Methodik, die Art und Weise, mit der die Abhandlung durchgeführt werden muss, und deren charakteristische Merkmale, wie wir sogleich sehen werden. Der islamische Denker hat es mit einer vollendeten Wirtschaftsideologie zu tun, die bereits fertig festgesetzt ist, und ist aufgerufen, sie in ihrer wahren Bedeutung zu erkennen, ihre allgemeine Gestalt zu umreißen, ihre geistigen Leitlinien herauszufinden, ihre ursprünglichen Merkmale zu verdeutlichen, den Staub der Geschichte von ihrer abzuschütteln, soweit wie möglich der Schwierigkeiten Herr zu werden, die durch den angehäuften Schmutz der Zeit, die lange geschichtliche Distanz und durch das falsche Bild entstehen, das die unzulänglichen historischen Versuche, den Islam – wenn auch nur dem Namen nach – zu praktizieren, vermitteln, und sich schließlich aus dem Begriffsrahmen der nichtislamischen Kulturen zu befreien, welche die Weltsicht entsprechend ihrem Charakter und ihrer Denkweise beherrschen. Es gibt die Aufgabe jedes islamischen Wirtschaftsdenkers, sich zu bemühen, all dieser Schwierigkeiten Herr zu werden und sie hinter sich zu lassen, um zu einem getreuen Bild der Wirtschaftslehre des Islam zu gelangen. In diesem Sinne können wir sagen: Die Tätigkeit, die wir durchführen, ist ein Entdeckungsprozess. Im Gegensatz dazu führen die ideologischen Vordenker, die ihre kapitalistische oder sozialistische Ideologie verkünden, die Tätigkeit der kreativen Synthese und Erfindung der Ideologie aus. Sowohl der Entdeckungsprozess als auch der synthetische Prozess haben ihre Besonderheiten und Unterscheidungsmerkmale, die sich in den ideologischen Untersuchungen widerspiegeln, die von islamischen “Entdeckern“ bzw. von kapitalistischen oder sozialistischen “Erfindern“ vorgenommen werden. Die wichtigste dieser Besonderheiten und Unterscheidungsmerkmale sind der Ansatz und der Verlauf des jeweiligen Prozesses der Herausarbeitung der Ideologie. Beim Prozess der Synthese einer Wirtschaftsideologie, wenn der Aufbau eines theoretischen Lehrgebäudes für die Gesellschaftsordnung beabsichtigt wird, ist der Gedankengang natürlich und kontinuierlich, die allgemeinen Theorien der Wirtschaftsideologie werden direkt formuliert und dienen dann als Grundlage für sekundäre Abhandlungen und den Überbau von Gesetzen, die sich wie ein nächsthöheres Stockwerk auf die Ideologie stützen, etwa das Zivilgesetz, von dem wir bereits erläutert haben, dass es von der Ideologie abhängig ist und auf deren Fundament aufbaut. Das schrittweise Herausgearbeitete bei der Synthese des Lehrgebäudes ist also ein natürliches Fortschreiten vom Stamm zu den Zweigen, vom Fundament zum Überbau, oder mit anderen Worten: von einem bereits vorhandenen Stockwerk des allgemeinen theoretischen Gebäudes der Gesellschaftslehre zum nächst höheren Stockwerk. Um eine Wirtschaftsideologie zu “entdecken“, gehen wir von einem anderen Ansatzpunkt aus und in umgekehrter Richtung vor, wobei wir vor die Aufgabe gestellt sind, eine Wirtschaftsideologie herauszufinden, von der wir insgesamt, bzw. von einigen ihrer Aspekte, keine klare Vorstellung und keine umrissene Gestalt seitens dessen, der sie aufgestellt hat, haben, ebenso wie wir nicht wissen, ob die Ideologie an das Prinzip des kollektiven oder an das des privaten Eigentums glaubt, und nicht, ob die theoretische Grundlage für Privateigentum nach der Ideologie die Bedürftigkeit, die Arbeit oder die freie Ausnutzung aller Möglichkeiten der Bereicherung ist.

Unter diesen Umständen, solange wir nicht im Besitz einer eindeutigen schriftlichen Quelle von den Begründern der Ideologie sind, die deren Unklarheiten beseitigt, müssen wir nach einer anderen Methode suchen, um die Ideologie, bzw. deren undurchsichtige Aspekte zu erforschen. Wir können diese Methode mit Blick auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Ideologie und Gesetz, das wir bereits erläutert haben, näher umschreiben, denn da sich das Zivilgesetz zur Ideologie wie ein höheres Stockwerk zu dem Fundament, auf dem es aufbaut, verhält, und aus ihr seine Tendenz herleitet, ist es möglich, die Ideologie über das Gesetz herauszufinden, das sich auf jene unbekannte Ideologie gründet. Beim “Entdeckungsprozess“ müssen also die Ausstrahlungen der Ideologie im weiteren Umfeld erforscht werden, d.h. die “Überbauten“ und Auswirkungen in verschiedene Bereichen, in denen sie sich widerspiegelt, um über diese Ausstrahlungen und Auswirkungen zu einer präzisen Einschätzung von Denkweise und Theorie der Wirtschaftsideologie, die sich hinter diesen Phänomenen verbirgt, zu gelangen. Somit hat der “Entdeckungsprozess“ den umgekehrten Weg des “synthetischen Prozesses“ zu verfolgen, vom Überbau ausgehend hin zum Fundament, d.h. er beginnt mit der Bestandsaufnahme der Auswirkungen, ordnet diese systematisch, und gewinnt schließlich ein präzise umrissenes Bild von der Ideologie, anstatt bei der Formulierung der Ideologie anzusetzen und dann zur detaillierten Untersuchung von deren Auswirkungen überzugehen. Genauso gehen wir vor, wenn wir die islamische Wirtschaftsideologie herausfinden wollen, oder, richtiger ausgedrückt, bei einem großen Teil davon, denn es gibt durchaus einige Aspekte der Wirtschaftsideologie im Islam, die sich direkt aus den Textquellen herauslesen lassen, aber es gibt darüber hinaus eine Anzahl grundsätzlicher Theorien und Konzepte, welche die Wirtschaftsideologie ausmachen, und die nicht leicht aus den Textquellen zu erschließen sind. Letztere lassen sich nur auf indirektem Wege herausarbeiten, d.h. mit Hilfe der oberen Stockwerke des erhabenen Gebäudes des Islam, und indem man den Bestimmungen nachgeht, mit denen der Islam die wirtschaftlichen Pflichten und Rechte regelt. Wir gehen also vom Überbau aus und gelangen stufenweise zum nächsttieferen Stockwerk, weil wir etwas “entdecken“ wollen. Wer dagegen eine kreative Synthese durchführt, versucht ein Gebäude zu errichten, nicht es zu entdecken, und steigt vom ersten zum zweiten Stockwerk auf, weil seine Tätigkeit die des Aufbaus und der Gestaltung ist und beim Aufbauprozess das zweite Stockwerk immer später als das erste entsteht. So unterscheidet sich bereits unsere Ausgangsposition von der der ideologischen Vordenker des Kapitalismus oder Sozialismus, ja sie ist sogar anders als die Situation derjenigen, die die kapitalistischen oder sozialistischen Ideologie studieren, um deren Merkmale herauszufinden und zu definieren, denn jene können die besagten Ideologien auf direktem Wege untersuchen, indem sie sich an die allgemeinen Konzepte halten, wie sie von den Vordenkern dieser Ideologien seinerzeit verkündet worden sind. So brauchen wir nicht, um beispielsweise die Wirtschaftslehre von Adam Smith zu verstehen, seine Gedanken über das Zivilgesetz, oder die Methode, die für die Regelung der Pflichten und Rechte bevorzugt, zu studieren, sondern können uns von Anfang an mit seinen wirtschaftsideologischen Gedanken befassen. Im Gegensatz dazu können wir bei vielen Teilen der Wirtschaftsideologie, für die der Islam eintritt, wenn wir sie verstehen wollen, keine präzisen Formeln dafür in den islamischen kanonischen Quellen finden, wie im Falle der kapitalistischen Lehrsätze bei Adam Smith, und sind von der Natur der Sache her gezwungen, uns an die Auswirkungen der Ideologie zu halten, und diese anhand ihrer Charakteristika, die sich in den oberen Stockwerken des erhabenen Gebäudes des Islam widerspiegeln, indirekt herausarbeiten.

Aus diesem Grund erscheint die Art und Weise, mit der der islamische Denker die islamische Wirtschaftsideologie erforscht, manchmal wie auf den Kopf gestellt, oder es scheint, als ob er Ideologie und Zivilgesetz nicht auseinander halte, wenn er islamische Bestimmungen als Gegenstück eines Zivilgesetzes heranzieht, um die Wirtschaftslehre des Islam zu untersuchen. Tatsächlich geht er aber korrekt vor, solange er diese Bestimmungen als Überbau der Ideologie anführt, mir deren Hilfe diese herausgefunden werden kann, und nicht als die Wirtschaftsideologie oder die wirtschaftlichen Theorien des Islam selbst präsentiert.

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