Verfahren der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] und
subjektiver Faktor
Wir wissen bis jetzt: Die Quellen, auf
die wir für unser Verfahren der “Entdeckung“ der
Wirtschaftsideologie im Islam zurückgreifen können, sind die
Bestimmungen des islamischen Rechts
[scharia] und die islamischen Begriffsinhalte.
Es ist nun an der Zeit, etwas über die Methode zu sagen, mit
der wir diese Bestimmungen und Begriffsinhalte erfahren, und
welche Risiken für deren Authentizität diese Methode mit sich
bringt. Denn wenn wir die Wirtschaftsideologie anhand der
Bestimmungen und der Begriffsinhalte untersuchen, ist es
selbstverständlich, dass wir uns fragen müssen: Wie kommen wir
zu diesen Bestimmungen und Begriffsinhalten selbst? Die
Antwort auf diese Frage ist, dass wir mit diesen Bestimmungen
und Begriffsinhalten in den islamischen Textquellen direkt
konfrontiert werden, die sowohl die Gesetzgebung als auch eine
bestimmte islamische Sichtweise enthalten. Wir brauchen also
nur die Texte des edlen Qur´an und der Verfahrensweise [sunna]
für diesen Zweck heranzuziehen, um eine ausreichende Anzahl
von Bestimmungen und Begriffsinhalten zusammenzustellen, mit
deren Hilfe wir schließlich zu den allgemeinen ideologischen
Theorien gelangen. Trotzdem handelt es sich nicht nur um die
Sammlung von Zitaten, denn der Gehalt der schriftlichen
Quellen an für die Gesetzgebung relevanten Aussagen und
Begriffsinhalten tritt im allgemeinen nicht so deutlich und
präzise zutage, dass er in jeder Hinsicht zweifelsfrei wäre;
vielmehr ist deren Gehalt oft kaum zu erkennen, oder es
scheinen sich verschiedene, nicht zueinander passende
Bedeutungen aus ihnen herauslesen zu lassen.
Unter solchen Umständen wird das
Verstehen der Textquellen und die Herausarbeitung des präzisen
Gehaltes aus einer Anzahl von Texten, die sich auf ein
bestimmtes Thema beziehen, zu einem komplizierten Prozess der
selbständigen Rechtsfindung [idschtihad]
anstelle eines einfachen Verstehens. Wir wollen in diesem
Zusammenhang nicht versuchen, die Natur dieses Prozesses und
seine für die islamische Rechtsgelehrsamkeit
charakteristischen Quellen, Regeln und Methoden aufzuzeigen,
denn all das würde den Rahmen der Untersuchung sprengen,
sondern wir wollen Tatsachen über die Wirtschaftsideologie des
Islam feststellen, und vor den Fehlerquellen warnen, die bei
dem “Entwicklungsprozess“ auftauchen. Es ist jedoch eine
Tatsache, dass das Bild, das wir von der Wirtschaftsideologie
entwerfen, da es auf der Auswertung von islamischen
Bestimmungen und Begriffsinhalten beruht, eine bestimmte
selbständige Rechtsfindung [idschtihad] widerspiegelt.
Denn jene Bestimmungen und Begriffsinhalte, auf denen das Bild
beruht, werden durch eine persönliche Anstrengung [idschtihad]
zum Verständnis der Textquellen und eine besondere Methode,
sie miteinander in einen Zusammenhang zu stellen, entwickelt.
Und da das Bild, das wir von der islamischen
Wirtschaftsideologie entwerfen, auf einer selbständigen
Rechtsfindung [idschtihad] beruht, muss es nicht
unbedingt ein wahrheitsgetreues Bild sein, denn bei der
selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] sind Irrtümer
immer möglich. Daher kann es sein, dass verschiedene
islamische Denker unterschiedliche Bilder von der
Wirtschaftslehre im Islam präsentieren, als Folge ihrer
unterschiedlichen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad],
und alle diese Bilder müssen als islamische Bilder der
Wirtschaftslehre angesehen werden, denn sie sind Ausdruck der
Praktizierung der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad],
den der Islam ausdrücklich erlaubt, und dessen Methoden und
Regeln er festsetzt.
Das Bild ist
also ein islamisches, sofern es das Ergebnis einer nach dem
islamischen Gesetz zulässigen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad]
ist, unabhängig davon, in welchem Maße es mit der
tatsächlichen Wirtschaftsideologie im Islam übereinstimmt.
Dies ist eine Tatsache; aber das Risiko bei dem
“Entdeckungsprozess“, der auf dem Verständnis von Bestimmungen
und Begriffsinhalten aufbaut, das durch selbständige
Rechtsfindung [idschtihad] aus den Textquellen gewonnen
wird ist das Risiko des subjektiven Elements, bzw. des
Einfließens persönlicher Motive in das Verfahren der
selbständigen Rechtsfindung [idschtihad], denn die
Herausarbeitung der Ideologie geschieht umso sorgfältiger und
erreicht ihr selbstgesetztes Ziel umso sicherer, je objektiver
und je mehr sie über den Verdacht der Subjektivität erhaben
ist. Wenn aber derjenige, der die Untersuchung durchführt und
die Textquellen auswertet, das Ergebnis durch seine
persönlichen Motive beeinflussen lässt, dann verliert die
Untersuchung ihre objektive Verlässlichkeit und den Charakter
einer wirklichen “Entdeckung“.
Die Gefahr des
Irrtums wird noch größer und kritischer, wenn ein großer
historischer und realer Abstand zwischen den Texten und
demjenigen, der sie auswertet, besteht, und wenn die Texte
sich mit den Lösungsmöglichkeiten solcher Probleme befassen,
die in der realen Umwelt des Interpreten mit genau
entgegengesetzten Methoden angegangen werden, wie das für
viele Texte zutrifft, die gesetzgeberische Vorschriften und
Konzepte im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Aspekten
des menschlichen Lebens enthalten. Deshalb sind die Risiken
des subjektiven Faktors bei der Erforschung der islamischen
Wirtschaftslehre größer als bei dem Verfahren der
selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] zur
Formulierung anderer Bestimmungen des Individualrechts, wie
etwa das Urteil über die rituelle Reinheit von Vogelurin, über
das Verbot, beim rituellen Gebet zu weinen oder über die
Pflicht des Sünders zur Reue. Und weil bei der Untersuchung,
die wir vornehmen, die Gefahr von Irrtümern besonders groß
ist, sind wie verpflichtet, dieses Problem deutlich
aufzuzeigen und diese Fehlerquellen zu umreißen. Wir können in
diesem Zusammenhang die vier folgenden Ursachen als
Fehlerquellen durch Einfluss des subjektiven Faktors anführen:
a)
Nachträgliche Rechtfertigung der realen Praxis.
b) Einpassung
der Textquellen in einen besonderen Rahmen.
c) Loslösung
der gesetzlichen Belege aus dem Zusammenhang ihrer speziellen
Umstände von Voraussetzungen.
d) Vorurteile
gegenüber der Textquellen.