Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Verfahren der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] und subjektiver Faktor

Wir wissen bis jetzt: Die Quellen, auf die wir für unser Verfahren der “Entdeckung“ der Wirtschaftsideologie im Islam zurückgreifen können, sind die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] und die islamischen Begriffsinhalte. Es ist nun an der Zeit, etwas über die Methode zu sagen, mit der wir diese Bestimmungen und Begriffsinhalte erfahren, und welche Risiken für deren Authentizität diese Methode mit sich bringt. Denn wenn wir die Wirtschaftsideologie anhand der Bestimmungen und der Begriffsinhalte untersuchen, ist es selbstverständlich, dass wir uns fragen müssen: Wie kommen wir zu diesen Bestimmungen und Begriffsinhalten selbst? Die Antwort auf diese Frage ist, dass wir mit diesen Bestimmungen und Begriffsinhalten in den islamischen Textquellen direkt konfrontiert werden, die sowohl die Gesetzgebung als auch eine bestimmte islamische Sichtweise enthalten. Wir brauchen also nur die Texte des edlen Qur´an und der Verfahrensweise [sunna] für diesen Zweck heranzuziehen, um eine ausreichende Anzahl von Bestimmungen und Begriffsinhalten zusammenzustellen, mit deren Hilfe wir schließlich zu den allgemeinen ideologischen Theorien gelangen. Trotzdem handelt es sich nicht nur um die Sammlung von Zitaten, denn der Gehalt der schriftlichen Quellen an für die Gesetzgebung relevanten Aussagen und Begriffsinhalten tritt im allgemeinen nicht so deutlich und präzise zutage, dass er in jeder Hinsicht zweifelsfrei wäre; vielmehr ist deren Gehalt oft kaum zu erkennen, oder es scheinen sich verschiedene, nicht zueinander passende Bedeutungen aus ihnen herauslesen zu lassen.

Unter solchen Umständen wird das Verstehen der Textquellen und die Herausarbeitung des präzisen Gehaltes aus einer Anzahl von Texten, die sich auf ein bestimmtes Thema beziehen, zu einem komplizierten Prozess der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad][1] anstelle eines einfachen Verstehens. Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht versuchen, die Natur dieses Prozesses und seine für die islamische Rechtsgelehrsamkeit charakteristischen Quellen, Regeln und Methoden aufzuzeigen, denn all das würde den Rahmen der Untersuchung sprengen, sondern wir wollen Tatsachen über die Wirtschaftsideologie des Islam feststellen, und vor den Fehlerquellen warnen, die bei dem “Entwicklungsprozess“ auftauchen. Es ist jedoch eine Tatsache, dass das Bild, das wir von der Wirtschaftsideologie entwerfen, da es auf der Auswertung von islamischen Bestimmungen und Begriffsinhalten beruht, eine bestimmte selbständige Rechtsfindung [idschtihad] widerspiegelt. Denn jene Bestimmungen und Begriffsinhalte, auf denen das Bild beruht, werden durch eine persönliche Anstrengung [idschtihad] zum Verständnis der Textquellen und eine besondere Methode, sie miteinander in einen Zusammenhang zu stellen, entwickelt. Und da das Bild, das wir von der islamischen Wirtschaftsideologie entwerfen, auf einer selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] beruht, muss es nicht unbedingt ein wahrheitsgetreues Bild sein, denn bei der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] sind Irrtümer immer möglich. Daher kann es sein, dass verschiedene islamische Denker unterschiedliche Bilder von der Wirtschaftslehre im Islam präsentieren, als Folge ihrer unterschiedlichen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad], und alle diese Bilder müssen als islamische Bilder der Wirtschaftslehre angesehen werden, denn sie sind Ausdruck der Praktizierung der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad], den der Islam ausdrücklich erlaubt, und dessen Methoden und Regeln er festsetzt.

Das Bild ist also ein islamisches, sofern es das Ergebnis einer nach dem islamischen Gesetz zulässigen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] ist, unabhängig davon, in welchem Maße es mit der tatsächlichen Wirtschaftsideologie im Islam übereinstimmt. Dies ist eine Tatsache; aber das Risiko bei dem “Entdeckungsprozess“, der auf dem Verständnis von Bestimmungen und Begriffsinhalten aufbaut, das durch selbständige Rechtsfindung [idschtihad] aus den Textquellen gewonnen wird ist das Risiko des subjektiven Elements, bzw. des Einfließens persönlicher Motive in das Verfahren der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad], denn die Herausarbeitung der Ideologie geschieht umso sorgfältiger und erreicht ihr selbstgesetztes Ziel umso sicherer, je objektiver und je mehr sie über den Verdacht der Subjektivität erhaben ist. Wenn aber derjenige, der die Untersuchung durchführt und die Textquellen auswertet, das Ergebnis durch seine persönlichen Motive beeinflussen lässt, dann verliert die Untersuchung ihre objektive Verlässlichkeit und den Charakter einer wirklichen “Entdeckung“.

Die Gefahr des Irrtums wird noch größer und kritischer, wenn ein großer historischer und realer Abstand zwischen den Texten und demjenigen, der sie auswertet, besteht, und wenn die Texte sich mit den Lösungsmöglichkeiten solcher Probleme befassen, die in der realen Umwelt des Interpreten mit genau entgegengesetzten Methoden angegangen werden, wie das für viele Texte zutrifft, die gesetzgeberische Vorschriften und Konzepte im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Aspekten des menschlichen Lebens enthalten. Deshalb sind die Risiken des subjektiven Faktors bei der Erforschung der islamischen Wirtschaftslehre größer als bei dem Verfahren der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] zur Formulierung anderer Bestimmungen des Individualrechts, wie etwa das Urteil über die rituelle Reinheit von Vogelurin, über das Verbot, beim rituellen Gebet zu weinen oder über die Pflicht des Sünders zur Reue. Und weil bei der Untersuchung, die wir vornehmen, die Gefahr von Irrtümern besonders groß ist, sind wie verpflichtet, dieses Problem deutlich aufzuzeigen und diese Fehlerquellen zu umreißen. Wir können in diesem Zusammenhang die vier folgenden Ursachen als Fehlerquellen durch Einfluss des subjektiven Faktors anführen:

a) Nachträgliche Rechtfertigung der realen Praxis.

b) Einpassung der Textquellen in einen besonderen Rahmen.

c) Loslösung der gesetzlichen Belege aus dem Zusammenhang ihrer speziellen Umstände von Voraussetzungen.

d) Vorurteile gegenüber der Textquellen.

[1] Die selbständige Rechtsfindung ist ein Begriff aus dem islamischen Recht [scharia] und umfasst das Verfahren zur Rechtsfindung in einer beliebigen Fragestellung. Sie ist eine der Rechtsfindungsmethoden. Zur Anwendung der selbstständigen Rechtsfindung muss die notwenige Befähigung zum Rechtsgelehrten [mudschtahid] vorhanden sein. Ein Muslim muss entweder selbst diese Befähigung besitzen oder er löst die Fragestellung durch Nachahmung [taqlid] eines Vorbildes der Nachahmung seines Vertrauens.

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