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Muhammad Baqir al-Sadr

Verständnis des Islam von Reichtum

Im Zusammenhang mit der Frage, ob Reichtum als eigentliches Ziel anzusehen ist, können wir die Einschätzung von Reichtum aus der Sicht des Islam im Lichte der Textquellen erkennen, welche sich mit diesem Aspekt befassen, und den islamischen Begriff von Reichtum erklären. Diese Textquellen können wir in zwei Gruppen aufteilen, wobei der Untersuchende vielleicht zunächst einen Widerspruch zwischen den jeweiligen gedanklichen Assoziationen mit dem Reichtum und dessen Ziel und Rolle finden wird, aber eine Synthese jener Aussagegehalte löst den Widerspruch und lässt den vollständigen islamischen Begriffsinhalt von der Entwicklung des Reichtums in seinen beiden Grenzen erkennen. Zu der ersteren Gruppe zählen die folgenden Überlieferungs-Zitate:

a) Allahs Gesandter (s.) sprach: „Die beste Hilfe für die Gottesehrfurcht ist der Wohlstand.“

b) Von Imam al-Sadiq (a.) wird der Ausspruch überliefert: „Die beste Hilfe für das Jenseits ist das Diesseits.“

c) Desgleichen von Imam al-Baqir (a.): „Das Diesseits ist die beste Hilfe für denjenigen, der die Belohnung im Jenseits anstrebt.“

d) Desgleichen von Allahs Gesandtem (s.): „Oh Allah, sende uns das Brot und trenne uns nicht davon, denn ohne das Brot würden wir weder beten, noch fasten, noch die sonstigen Pflichten gegenüber unserem Herrn erfüllen (können).“

e) Ein Mann sagte zu Imam al-Sadiq (a.): „Bei Allah, wir streben die Güter dieser Welt an, und wünschen, dass sie uns gegeben werden.“ Da fragte ihn der Imam (a.): „Was wünschst du damit zu machen?“ Er sagte: „Ich will damit für mich selbst und meine Familie aufkommen und beten und Almosen geben und die Pilgerfahrt [hadsch] und die kleine Pilgerfahrt [umra] vollziehen.“ Da sagte der Imam (a.): „Das ist kein Streben nach Gütern dieser Welt, sondern ein Bemühen um die Belohnung im Jenseits.“

f) In einer Überlieferung heißt es: „Wer sein Interesse an dieser Welt zugunsten des Jenseits aufgibt, oder seine Vorsorge für das Jenseits unterlässt, um sich nur dieser Welt zu widmen, der gehört nicht zu uns.“

Und zur zweiten Gruppe gehören die folgenden Überlieferungs-Zitate:

a) Der Ausspruch von Allahs Gesandtem (s.): „Wer sein Wohlergehen in dieser Welt liebt, der fügt seinem Schicksal im Jenseits Schaden zu.“

b) Der Ausspruch von Imam al-Sadiq (a.): „Der Beginn jeder Verfehlung ist die Liebe zum Diesseits.“

c) Ein weiterer Ausspruch von Imam al-Sadiq (a.): „Der Mensch entfernt sich am weitesten von Allah, wenn ihn nur sein Bauch und sein Wohlleben interessieren.“

d) Der Ausspruch von Imam Ali (a.): „Zu den Tugenden, die am meisten der Religion förderlich sind, gehört der Verzicht auf die Güter dieser Welt.“

Jeder bemerkt unschwer den Unterschied zwischen dem Aussagegehalt beider Gruppen von Zitaten, denn in der ersten Gruppe wird die diesseitige Welt und ihr Reichtum und Wohlstand als “die beste Hilfe für das Jenseits“ bezeichnet, während sie in der zweiten Gruppe als “der Beginn jeder Verfehlung“ gilt. Aber dieser Widerspruch lässt sich durch eine Synthese lösen, denn der Reichtum und dessen Entwicklung ist sowohl die beste Hilfe für das Jenseits als auch der Beginn jeder Verfehlung, weil die Einstellung dazu zwei Extreme annehmen kann, wobei das eine oder andere Extrem jeweils durch den psychologischen Rahmen ausgeprägt wird. So ist der Reichtum und dessen Entwicklung nach der Auffassung des Islam ein wichtiges Ziel, aber ein Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck, denn der Reichtum ist nicht das eigentliche Ziel, welches Allah dem islamischen Menschen auf dieser Erde vorgegeben hat, sondern ein Hilfsmittel, mit dem der islamische Mensch seine Aufgabe der Stellvertreterschaft erfüllen kann, und das er verwenden soll, um sämtliche menschlichen Energien zu entfalten und zu einer höheren menschlichen Entwicklungsstufe im ideellen und materiellen Bereich zu gelangen.

Die Entwicklung des Reichtums und der Produktion, um dieses primäre Ziel der Stellvertreterschaft Allahs auf Erden durch den Menschen zu erreichen, ist also die beste Hilfe für das Jenseits, und wer nicht danach strebt, an dem ist nichts Gutes, d.h. wer es aufgibt und vernachlässigt, der gehört nicht zu den Muslimen als den Trägern einer für das Leben aller Menschen bedeutsamen Mission. Dagegen ist das andere Extrem, nämlich die Entwicklung von Reichtum und Produktion um ihrer selbst willen, derart, dass es den wesentlichen Bereich ausmacht, für den der Mensch lebt und der ihn absorbiert, der Beginn jeder Verfehlung, und das, was den Menschen von seinem Herrn entfernt und dessen er sich enthalten muss.

Der Islam will, dass der islamische Mensch Reichtum entwickelt, um die Gewalt darüber zu erlangen und davon bei der Entwicklung seiner Existenz als Ganzem zu profitieren, und nicht, damit der Reichtum die Gewalt über den Menschen erlangt, ihm die Führung aus der Hand nimmt, und die höheren Ziele von seinem Bewusstsein eliminiert. Der Islam billigt nicht solchen Reichtum, bzw. solche Methoden seiner Vermehrung, die den islamischen Menschen von seinem Herrn entfremden, die ihn seine spirituellen Antriebe vergessen lassen, die seine größte Mission, nämlich eine Ordnung der Gerechtigkeit auf diesem Planeten zu errichten, behindert, und die ihn an die Erde fesseln. Dagegen ist solcher Reichtum, bzw. solche Methoden seiner Vermehrung, welche die Verbundenheit des islamischen Menschen mit seinem Herrn, der ihm Gnade erweist, bekräftigt, welche ihn in Wohlstand und Prosperität für dessen Verehrung empfänglich machen, welche allen seinen Anlagen und Energien die Möglichkeit der Entfaltung und Vervollkommnung bieten, und welche ihm helfen, sein Ideal der Brüderlichkeit und Großmütigkeit zu verwirklichen, das Ziel, das der Islam dem islamischen Menschen vor Augen stellt, und zu dem er ihn motiviert.

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