Verständnis des Islam von Reichtum
Im Zusammenhang mit der Frage, ob
Reichtum als eigentliches Ziel anzusehen ist, können wir die
Einschätzung von Reichtum aus der Sicht des Islam im Lichte
der Textquellen erkennen, welche sich mit diesem Aspekt
befassen, und den islamischen Begriff von Reichtum erklären.
Diese Textquellen können wir in zwei Gruppen aufteilen, wobei
der Untersuchende vielleicht zunächst einen Widerspruch
zwischen den jeweiligen gedanklichen Assoziationen mit dem
Reichtum und dessen Ziel und Rolle finden wird, aber eine
Synthese jener Aussagegehalte löst den Widerspruch und lässt
den vollständigen islamischen Begriffsinhalt von der
Entwicklung des Reichtums in seinen beiden Grenzen erkennen.
Zu der ersteren Gruppe zählen die folgenden
Überlieferungs-Zitate:
a) Allahs Gesandter (s.) sprach: „Die
beste Hilfe für die Gottesehrfurcht ist der Wohlstand.“
b) Von Imam al-Sadiq (a.) wird der
Ausspruch überliefert: „Die beste Hilfe für das Jenseits
ist das Diesseits.“
c) Desgleichen von Imam al-Baqir (a.): „Das
Diesseits ist die beste Hilfe für denjenigen, der die
Belohnung im Jenseits anstrebt.“
d) Desgleichen von Allahs Gesandtem (s.):
„Oh Allah, sende uns das Brot und trenne uns nicht
davon, denn ohne das Brot würden wir weder beten, noch fasten,
noch die sonstigen Pflichten gegenüber unserem Herrn erfüllen
(können).“
e) Ein Mann sagte zu Imam al-Sadiq (a.):
„Bei Allah, wir streben die Güter dieser Welt an, und
wünschen, dass sie uns gegeben werden.“ Da fragte ihn der
Imam (a.): „Was wünschst du damit zu machen?“ Er sagte:
„Ich will damit für mich selbst und meine Familie aufkommen
und beten und Almosen geben und die Pilgerfahrt [hadsch] und
die kleine Pilgerfahrt [umra] vollziehen.“ Da sagte der
Imam (a.): „Das ist kein Streben nach Gütern dieser Welt,
sondern ein Bemühen um die Belohnung im Jenseits.“
f) In einer Überlieferung heißt es: „Wer
sein Interesse an dieser Welt zugunsten des Jenseits aufgibt,
oder seine Vorsorge für das Jenseits unterlässt, um sich nur
dieser Welt zu widmen, der gehört nicht zu uns.“
Und zur zweiten Gruppe gehören die
folgenden Überlieferungs-Zitate:
a) Der Ausspruch von Allahs Gesandtem
(s.): „Wer sein Wohlergehen in dieser Welt liebt, der
fügt seinem Schicksal im Jenseits Schaden zu.“
b) Der Ausspruch von Imam al-Sadiq (a.):
„Der Beginn jeder Verfehlung ist die Liebe zum Diesseits.“
c) Ein weiterer Ausspruch von Imam
al-Sadiq (a.): „Der Mensch entfernt sich am weitesten
von Allah, wenn ihn nur sein Bauch und sein Wohlleben
interessieren.“
d) Der Ausspruch von Imam Ali (a.): „Zu
den Tugenden, die am meisten der Religion förderlich sind,
gehört der Verzicht auf die Güter dieser Welt.“
Jeder bemerkt unschwer den Unterschied
zwischen dem Aussagegehalt beider Gruppen von Zitaten, denn in
der ersten Gruppe wird die diesseitige Welt und ihr Reichtum
und Wohlstand als “die beste Hilfe für das Jenseits“
bezeichnet, während sie in der zweiten Gruppe als “der
Beginn jeder Verfehlung“ gilt. Aber dieser Widerspruch
lässt sich durch eine Synthese lösen, denn der Reichtum und
dessen Entwicklung ist sowohl die beste Hilfe für das Jenseits
als auch der Beginn jeder Verfehlung, weil die Einstellung
dazu zwei Extreme annehmen kann, wobei das eine oder andere
Extrem jeweils durch den psychologischen Rahmen ausgeprägt
wird. So ist der Reichtum und dessen Entwicklung nach der
Auffassung des Islam ein wichtiges Ziel, aber ein Mittel zum
Zweck und kein Selbstzweck, denn der Reichtum ist nicht das
eigentliche Ziel, welches Allah dem islamischen Menschen auf
dieser Erde vorgegeben hat, sondern ein Hilfsmittel, mit dem
der islamische Mensch seine Aufgabe der Stellvertreterschaft
erfüllen kann, und das er verwenden soll, um sämtliche
menschlichen Energien zu entfalten und zu einer höheren
menschlichen Entwicklungsstufe im ideellen und materiellen
Bereich zu gelangen.
Die Entwicklung des Reichtums und der
Produktion, um dieses primäre Ziel der Stellvertreterschaft
Allahs auf Erden durch den Menschen zu erreichen, ist also die
beste Hilfe für das Jenseits, und wer nicht danach strebt, an
dem ist nichts Gutes, d.h. wer es aufgibt und vernachlässigt,
der gehört nicht zu den Muslimen als den Trägern einer für das
Leben aller Menschen bedeutsamen Mission. Dagegen ist das
andere Extrem, nämlich die Entwicklung von Reichtum und
Produktion um ihrer selbst willen, derart, dass es den
wesentlichen Bereich ausmacht, für den der Mensch lebt und der
ihn absorbiert, der Beginn jeder Verfehlung, und das, was den
Menschen von seinem Herrn entfernt und dessen er sich
enthalten muss.
Der Islam will, dass der islamische
Mensch Reichtum entwickelt, um die Gewalt darüber zu erlangen
und davon bei der Entwicklung seiner Existenz als Ganzem zu
profitieren, und nicht, damit der Reichtum die Gewalt über den
Menschen erlangt, ihm die Führung aus der Hand nimmt, und die
höheren Ziele von seinem Bewusstsein eliminiert. Der Islam
billigt nicht solchen Reichtum, bzw. solche Methoden seiner
Vermehrung, die den islamischen Menschen von seinem Herrn
entfremden, die ihn seine spirituellen Antriebe vergessen
lassen, die seine größte Mission, nämlich eine Ordnung der
Gerechtigkeit auf diesem Planeten zu errichten, behindert, und
die ihn an die Erde fesseln. Dagegen ist solcher Reichtum,
bzw. solche Methoden seiner Vermehrung, welche die
Verbundenheit des islamischen Menschen mit seinem Herrn, der
ihm Gnade erweist, bekräftigt, welche ihn in Wohlstand und
Prosperität für dessen Verehrung empfänglich machen, welche
allen seinen Anlagen und Energien die Möglichkeit der
Entfaltung und Vervollkommnung bieten, und welche ihm helfen,
sein Ideal der Brüderlichkeit und Großmütigkeit zu
verwirklichen, das Ziel, das der Islam dem islamischen
Menschen vor Augen stellt, und zu dem er ihn motiviert.