Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Zweite Grundlage der sozialen Sicherung

Aber der Staat leitet die Rechtfertigung für die soziale Sicherheit, die er gewährleistet, nicht nur von dem Grundsatz der allgemeinen gegenseitigen Verantwortlichkeit ab, sondern es lässt sich, wie wir erfuhren, eine weitere Grundlage der sozialen Garantie hervorheben, nämlich das Recht der Gemeinschaft auf die Quellen des natürlichen Reichtums. Aufgrund dieses Anrechts ist der Staat direkt verantwortlich, den Lebensunterhalt der Bedürftigen und Erwerbsunfähigen zu garantieren, abgesehen von der Bürgschaft, zu welcher die einzelnen Muslime selbst verpflichtet sind. Wir werden zunächst über diese direkte Verantwortlichkeit für die soziale Sicherung und deren Umfang, wie sie den dafür maßgeblichen gesetzgeberischen Texten zu entnehmen ist, sprechen, und dann von der theoretischen Grundlage, auf welcher das Konzept dieser Sicherung aufbaut, nämlich dem Anrecht der Gemeinschaft auf die Schätze der Natur.

Was nun diese direkte Verantwortlichkeit für die soziale Sicherung betrifft, so unterscheidet sie sich in ihrem Umfang von der Garantie, welche der Staat aufgrund des Prinzips der allgemeinen gegenseitigen Verantwortlichkeit leistet. Denn die erstere Verantwortung des Staates besteht nicht nur darin, den Einzelnen innerhalb der Grenzen seiner lebenswichtigen Bedürfnisse abzusichern, sondern sie verpflichtet den Staat, dem Einzelnen einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren, so wie ihn die übrigen Mitglieder der islamischen Gesellschaft genießen, da die Sicherung durch den Staat hier die Garantie der Versorgung impliziert, und Versorgung einer Person bedeutet, für deren Lebensunterhalt aufzukommen und sie angemessen auszustatten. Und “Angemessenheit“ ist ein flexibler Begriff, dessen Inhalt sich in dem Maße erweitert, wie das Land in der islamischen Gesellschaft an Prosperität und Wohlstand zunimmt.

Unter dieser Voraussetzung muss der Staat die Grundbedürfnisse des Einzelnen, wie Nahrung, Wohnung und Kleidung, befriedigen, und zwar in einer Art und Weise und in einem Umfang, wie es im Verhältnis zu den Lebensbedingungen der islamischen Gesellschaft angemessen ist. Ebenso muss der Staat außer den Grundbedürfnissen noch weitere Bedürfnisse befriedigen, die entsprechend der Höhe des Lebensstandards in der islamischen Gesellschaft zu deren Begriff von “Angemessenheit“ gehören. Die gesetzgeberischen Textquellen, welche auf die direkte Verantwortlichkeit des Staates für die soziale Sicherung hinweisen, bestätigen in aller Deutlichkeit die Tatsache dieser Verantwortung, und dass mit der Sicherung hier die Garantie der Versorgung, d.h. die Garantie eines angemessenen Lebensstandards, gemeint ist. So heißt es in einer Überlieferung von Imam Dschafar al-Sadiq (a.):

Allahs Gesandter (s.) verkündete bei seiner Predigt: 'Wer geschäftlichen Verlust hinterlässt, dessen Verlust trage ich, wer Schulden hinterlässt, dessen Schulden übernehme ich, und wenn jemand ohne Erben Vermögen hinterlässt, dann verbrauche ich es.'

In einer anderen Überlieferung heißt es, Imam Musa ibn Dschafar (a.) habe – zur Definition der Rechte und Pflichten des Imam – gesagt:

Er ist der Erbe dessen, der keinen Erben hat, und er versorgt den, der keinen Erwerb hat.“

In der Überlieferung des Musa ibn Bakr heißt es, Imam Musa ibn Dschafar (a.) habe ihm gesagt:

„Wer auf legitime Weise seinen Lebensunterhalt verdient, um damit sich selbst und seine Angehörigen zu versorgen, ist einem Kämpfer für die Sache Allahs vergleichbar. Denn wenn er bei seinen Geschäften keinen Erfolg hat, obliegt es Allah und seinem Gesandten für den Lebensunterhalt seiner Angehörigen aufzukommen, und wenn er stirbt, und eine Schuld nicht beglichen hat, dann muss der Imam sie begleichen, oder die Verantwortung dafür übernehmen. Allah der Erhabene sprach: 'Wahrlich, die Almosen sind nur für die Armen und Bedürftigen und für die mit der Verwaltung Beauftragten ...,'[1] und der Betreffende ist arm, bedürftig und verschuldet.[2]

In dem Schreiben von Imam Ali (a.) an seinen Gouverneur in Ägypten heißt es: „(Fürchte) Allah hinsichtlich der niedrigsten Schicht, bestehend aus den Hilflosen, den Armen, den Bedürftigen, den im Elend Lebenden und den chronisch Gebrechlichen, denn in dieser Schicht gibt es die Bittenden und Bettelnden. So bewahre um Allahs Willen, was Er dir zu bewahren aufgetragen hat an Seinen Rechten bezüglich ihrer. Gib ihnen einen Anteil aus deiner Gemeinwohlkasse [bait-ul-mal] ..., denn wahrlich, den am entferntesten Lebenden steht das Gleiche zu wie denen in nächster Nähe. Es wird von dir verlangt, dass du das Recht eines Jeden (von ihnen) wahrst, und das Leben im Überschuss soll dich nicht von ihnen fernhalten. Denn es ist keine Entschuldigung für dich, dass du viele wichtige Dinge zu entscheiden hast, Geringfügiges zu vernachlässigen. Daher wende dein Interesse nicht von ihnen ab und zeige ihnen kein verächtliches Gesicht. Inspiziere die Lage derer, die sich nicht mit dir in Verbindung setzen, weil (ihre armselige Erscheinung) ins Auge springt und die Leute sie verachten. Entsende für sie deine Vertrauenswürdigen unter den Gottesehrfürchtigen und Bescheidenen, und die sollen dir deren Lage übermitteln. Dann handle ihnen gegenüber so, dass du es Allah gegenüber verantworten kannst, an dem Tag, an dem du Ihm begegnen wirst. Denn das sind diejenigen unter den Untertanen, die der Gerechtigkeit mehr bedürfen als andere, und gib Allah Rechenschaft hinsichtlich der Erfüllung ihrer Rechte und der Fürsorge für die Mittellosen unter den Waisen und den Betagten, und die das Bitten nicht für sich für angemessen erachten. [3]

Diese Textquellen bestätigen in aller Deutlichkeit den Grundsatz der sozialen Sicherung, und erläutern die direkte Verantwortlichkeit des Staates dafür, jeden Einzelnen zu versorgen, und ihm ein angemessenes Auskommen zu verschaffen. Dieses ist jener Aspekt des Prinzips der sozialen Sicherung, für dessen Anwendung und Praktizierung in der islamischen Gesellschaft der Staat als direkt verantwortlich gilt. Die theoretische Grundlage, auf der das Konzept der sozialen Sicherheit bei diesem Aspekt des Prinzips aufbaut, könnte das Bekenntnis des Islam zum Anrecht der ganzen menschlichen Gemeinschaft auf die Quellen des natürlichen Reichtums sein, denn diese natürlichen Ressourcen wurden für die Gemeinschaft insgesamt, und nicht für eine bestimmte Gruppe unter Ausschluss anderer Gruppen, geschaffen, entsprechend dem Qur´an-Vers: Er erschuf was in der Erde ist für euch alle gemeinsam.“ [4] Dieses Anrecht bedeutet, dass jeder Einzelne aus der Gemeinschaft das Recht hat, die Reichtümer der Natur zu nutzen und dadurch einen ehrenvollen Lebensunterhalt zu beziehen.

Der Staat ist also verpflichtet, denjenigen Mitgliedern der Gesellschaft, die zur Arbeit im öffentlichen oder privaten Sektor der Wirtschaft in der Lage sind, im Rahmen seiner Kompetenzen eine Gelegenheit zur Arbeit zu verschaffen. Und denjenigen, die keine Gelegenheit zur Arbeit haben oder dazu nicht in der Lage sind, muss der Staat ihr Anrecht auf eine Nutzung der natürlichen Reichtümer garantieren, indem er ihnen zu einem angemessenen Standard des ehrenvollen Lebensunterhalts verhilft. Die direkte Verantwortlichkeit des Staates für die soziale Sicherung begründet sich also durch das allgemeine Anrecht der Gemeinschaft auf die Nutzung der Schätze der Natur, und die Gültigkeit dieses Anrechts auch für die arbeitsunfähigen Mitglieder der Gesellschaft. Die Methode, welche die Ideologie verfolgt, um es dem Staat zu ermöglichen, dieses Recht der ganzen Gemeinschaft, einschließlich der Arbeitsunfähigen, zu garantieren und zu schützen, ist die Einplanung gewisser öffentlicher Sektoren in das islamische Wirtschaftssystem, die in den Ressourcen des “Eigentums der Gemeinschaft“ und des staatlichen Eigentums bestehen, damit die Existenz dieser Bereiche – zusammen mit der religiösen Pflicht der Allmosenabgabe [zakat] – das Recht der schwachen Mitglieder der Gesellschaft garantiert, die Monopolisierung des ganzen Reichtums durch die Starken verhindert, und eine Reserve für den Staat darstellt, die ihn mit den nötigen Mitteln ausstattet, um die soziale Sicherheit zu gewährleisten und jedem Einzelnen sein Recht auf einen ehrenvollen Lebensunterhalt von den Reichtümern der Natur zu verschaffen.

Somit ist die theoretische Grundlage das Anrecht der ganzen Gemeinschaft auf die Nutzung der Reichtümer der Natur. Und das Konzept, das auf dieser Grundlage beruht, ist die direkte Verantwortlichkeit des Staates dafür, allen erwerbsunfähigen und bedürftigen Personen einen angemessenen Standard des ehrenvollen Lebensunterhaltes zu garantieren. Und die ideologische Methode, die für die Realisierung dieses Konzeptes vorgesehen ist, ist die Nutzung des öffentlichen Sektors, den die islamische Wirtschaftsordnung einrichten soll, um – als eines von mehreren damit zu erreichenden Zielen – die Verwirklichung dieses Konzeptes zu gewährleisten. Die vielleicht unmissverständlichste gesetzgeberische Textquelle, aus welcher der ideologische Gehalt sowohl der besagten Grundlage, als auch des darauf aufbauenden Konzeptes und der Methode seiner Realisierung zu entnehmen ist, ist die Qur´an-Passage aus der 59. Sure “Die Versammlung [al-haschr]“, welche die Zweckbestimmung der Errungenschaft [fay][5] und deren Rolle als “öffentlicher Sektor“ beschreibt, und welche wir hier zitieren:

Und was Allah seinem Gesandten als Errungenschaft [fay] von ihnen gegeben hat – ihr brauchtet weder die Pferde noch Reittier dazu aufzubieten; aber Allah gibt seinen Gesandten Gewalt über wen Er will; und Allah hat Macht über alle Dinge. Was Allah seinem Gesandten von den Angehörigen der Städte als Errungenschaft [fay] zugeteilt hat, das ist für Allah und für den Gesandten und für Eigner der Verwandtschaft und die Waisen und die Armen und Sohn des Weges, damit es nicht bei den Reichen zwischen euch kursiert.“ [6]

In diesem Qur´an-Zitat können wir einen Hinweis auf die Grundlage finden, auf welcher das Konzept der sozialen Sicherung beruht, nämlich das Anrecht der ganzen Gemeinschaft auf den errungenen Reichtum (“... damit es nicht bei den Reichen zwischen euch kursiert ...), und eine Erklärung dafür, dass die Errungenschaft [fay] gesetzlich dem öffentlichen Sektor zugeordnet wird, nämlich weil auf diese Weise das besagte Anrecht garantiert und die Monopolisierung des Reichtums durch einige Mitglieder der Gemeinschaft verhindert wird, und eine Bestätigung dafür, dass der öffentliche Sektor für das Wohl der Waisen, der Armen und des “Reisenden“ in den Dienst gestellt werden muss, damit alle Mitglieder der Gemeinschaft zu ihrem Recht an der Nutzung der Natur gelangen, die Allah geschaffen hat, damit sie dem Menschen dienstbar sei. ... Im Lichte dieses Qur´an-Verses werden also die theoretische Grundlage, das darauf beruhende Konzept, und die Methode seiner Realisierung allesamt deutlich. Und manche Rechtsgelehrte, wie Scheich al-Hurr al-Amili, haben Rechtsgutachten abgegeben, wonach die soziale Sicherung durch den Staat nicht nur speziell für die Muslime gilt, so dass auch der Schutzbefohlene [dhimmi], der unter der Obhut des Islamischen Staates lebt, aus der Staatskasse versorgt werden soll, wenn er alt und erwerbsunfähig wird. So überliefert Scheich al-Hurr eine Überlieferung von Imam Ali (a.), welcher, als er an einem blinden alten Mann vorüberging, der bettelte, gefragt haben soll: „Was hat das zu bedeuten?“, worauf ihm gesagt wurde: „Oh Fürst der Gläubigen, dies ist ein Christ!“ Da sagte der Imam (a.): „Ihr habt ihn arbeiten lassen, und jetzt, wo er alt und hilflos ist, enthaltet ihr ihm die Unterstützung vor! Bezahlt seinen Lebensunterhalt aus der Staatskasse!

[1] Heiliger Qur´an 9:60

[2] Wenn der Imam diesen edlen Qur´an-Vers zitiert, so bedeutet das nicht, dass sich die Verantwortlichkeit des Befehlshabers [wali-ul-amr] für die Versorgung der Bedürftigen und die Aufwendung staatlicher Mittel zu diesem Zweck auf eine bestimmte Einkunftsquelle des Staates, nämlich die Allmosenabgabe [zakat], beschränken würde, sondern der Qur´an-Vers stellt eine allgemeingültige Bestimmung über die Spende [sadaka] in all ihren Formen fest, so dass er alle Güter umfasst, welche der Staat den Erwerbsunfähigen und Bedürftigen zukommen lässt, denn solche sind immer eine Art von Spende [sadaka]. Weiterhin ist der verantwortliche Regent [wali-ul-amr] nicht verpflichtet, die Allmosenabgabe [zakat] auf alle der im Qur´an-Vers erwähnten acht Gruppen aufzuteilen, sondern er kann sie selektiv für einige dieser Gruppen verwenden. Dennoch bestätigt der von Musa ibn Bakr überlieferte Text, das der verantwortliche Befehlshaber [wali-ul-amr] dafür aufkommt, wenn ein Mann seine Schulden nicht begleicht, und das ist nichts anderes als eine spezielle Garantie-Verpflichtung des Staates. (Fußnote des Autors)

[3] Pfad der Eloquenz – Nahdsch-ul-Balagha: 53. Anweisung – Regierungsauftrag an Malik al-Aschtar, Band 2, Seite 264, Verlag m-haditec

[4] Heiliger Qur´an 2:29

[5] Als Errungenschaft [fay] gilt prinzipiell alles, was Muslime ohne kriegerische Auseinandersetzung legal von anderen Staaten “errungen“ haben, und das gilt als Eigentum des Staates, d.h. des Propheten (s.) oder des Imams (a.) als Autorität. Dazu zählen z.B. Ländereien, die andere Staaten den Muslimen vermacht haben, um besondere Schutzrechte gegenüber Anfeindungen Dritter zu erhalten oder verlassene Ländereien, die Muslime errungen haben.

[6] Heiliger Qur´an 59:6-7

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