Musawi Lari

Westliche Zivilisation und Islam

Sayyid Mudschtaba Musawi Lari

Ins Englische übersetzt von J.F. Goulding, hiernach ins Deutsche übertragen durch R.H. Sengler

Das folgende Manuskript ist eine geringfügig überarbeitete und sprachlich verfeinerte Version der 1995 in Qum erschienenen deutschen Übersetzung.

Delmenhorst 2004

Der Islam und die Wirtschaft (2)

Die Wirtschaftshistoriker sagen uns, dass das kapitalistische System zu Anfang einfach und wohltätig war; aber der Brauch, Geld gegen Zinsen aus­zuleihen, steigerte sich Schritt für Schritt zu den gegenwärtigen schädlichen Auswüchsen. Damit einher entwickelte sich der Bankrott kleiner Unter­nehmen und ihre Verschmelzung zu riesigen komplexen Gesellschaften und Finanzgebilden. Der Islam etikettiert solchen Wucher als „Sünde“ und er tut dasselbe bei ungesunder Hochkonjunktur und plötzlichen Preis­stürzen, die untrennbar vom System sind.

Die Gesetzgebung des Islam hat die Zahlung eines „Zakat“ (Armenunterstützung) von 20% der Kapitalgewinne der Reichen für die Unterstützung der Bedürftigen eingeführt. Dies hilft Unterschiede auszugleichen, extreme Unterschiede geringer werden zu lassen und eine übermäßige Anhäufung von Reichtum kurz zu halten. Eine weitere Regelung des Islam, mit gleichem Ziel und Ergebnis, ist das Recht der Regierung, den Reichtum besonders zu besteuern, da er die Auffassung vertritt, das Gott dieser Welt seine guten Gaben zum Wohle aller gegeben hat, wie man an den Wäldern, Riedbänken, dem Weideland, den Wüsten, Gebirgsketten, Bodenschätzen und Bergwerken sehen kann.

Auch Grundbesitz kann öffentliches Eigentum werden, wenn der verstor­bene Eigentümer kein Testament hinterlassen hat oder weil er als Entschä­digungszahlung dienen muss, so dass er ebenso für alle da ist, wie Gott es für alle Dinge gemeint hat. Die Testamentgesetze des Islam beschneiden auch ein ungebührliches Anhäufen von Besitz in den Händen einer Familie im Laufe von Generationen.

Die Voraussetzungen, unter denen also der Islam seine Achtung der Rechte des Privatbesitzes einschränkt, sind von der Notwendigkeit diktiert: sicherzustellen, das die Privilegien eines einzelnen niemals die Wohlfahrt der islamischen Gemeinschaft in Frage stellen. Deswegen kann eine gerechte islamische Regierung bei einem Notstand oder Aufruhr die Macht­befugnisse, die ihr zur Verfügung stehen, sowohl zur Abwendung künftiger Gefahren einsetzen wie auch die Gesellschaft so lenken, das die muslimi­schen Massen keine Not leiden, wenn sie es für angemessen hält.

Der Boden einer Nation darf nicht Beute einer Handvoll von Eigentümern werden. Armut und Unterernährung der Massen dürfen nicht unbe­achtet bleiben. Dies sind unverrückbare Prinzipien, die vom Islam offen und fest, gewissenhaft und energisch verfochten werden. Der Glaube verurteilt das schädliche Eindringen moderner kapitalistischer Praktiken in die Welt der Muslime und ächtet die Gier und den Geiz, die zu Versklavung, Krieg und Imperialismus führen.

Im Qur’an (Sure 59:7) heißt es sinngemäß: “Die Anordnungen, die wir für die Verteilung des Eigentums offenbart haben, sind zu dem Zweck erlassen, dass das Kapital nicht nur bei den Kapitalisten unter euch zirkulieren darf.“

Zusätzlich zu den gesetzlichen Bestimmungen, welche die korrekte Ver­wendung von Geldern und Ressourcen sicherstellen, indem sie Verstöße bestrafen, bringt der Islam also völlig neue Motive zum Tragen, wie unser Koranzitat zu verstehen gibt: Er richtet das Streben des Menschen auf Gott. Er gibt seinem Verhalten auf der zu Ihm führenden Straße Stromlinienform. Diese Straße hat auf jeder Seite moralische Schutzwehren, die der Aspirant nicht überschreiten möchte. Die Straße ist mit Menschenliebe, Zuneigung, Wohltätigkeit und Selbstaufopferung gepflastert, was bedeutet, das kein Muslim sich freiwillig zu Handlungen hergeben wird, welche anderen Un­recht zufügen. So weigert sich nun das Gewissen des einzelnen, übermäßig viel Kapital anzuhäufen, und der Arbeitgeber weigert sich, Härte oder Unterdrückung anzuwenden, um seine Arbeiter zur Arbeit zu zwingen.

Diese erhabene Herausforderung für den Geist, die darauf zielt, dem einzelnen zu helfen, wie er Gott begreifen lernt und daher auch seinen Nach­barn liebt, ist tief in sein Gewissen eingepflanzt, so das ein Mensch seine Freuden und seinen Schatz darin findet, wie er seinen Schöpfer wohlgefällt; dies übertrifft alle übrigen Werte für ihn. In Wahrheit haben freilich der heutige Verfall der Religion und das Nachlassen des Glaubens an das Jüngste Gericht zu Habsucht, Gier, Bosheit und den vielen Arten von Unge­rechtigkeit und Unterdrückung geführt, die wir um uns erblicken. Wenn die Beziehungen der Menschen zu Gott nicht in Ordnung sind, dann werden auch ihre Beziehungen untereinander nicht in Ordnung sein. Eine Revolu­tion der Gewissen führt zu einer Revolution in der Seele, in der Gesellschaft und in der Welt. Dies hat uns die Geschichte in der Praxis gelehrt, genau wie die Vorschriften der Religion.

Die gleichen Überlegungen lassen sich auf die Ideologie des Kommunismus anwenden, und wir werden bald sehen, dass das Wissen des Islam den materialistischen Ausartungen in Ost und West überlegen ist.

Moderne Philosophen wie William James, Harold Laski, John Strachey, Walter Lippmann kritisieren beim Kommunismus, das er die Person und die Gemeinschaft zugunsten der Allmacht des Staates abgeschafft hat und führen aus, das Persönlichkeit und Unternehmensgeist des einzelnen in einer solchen Umgebung ersticken. Andererseits wird bei der kapitalisti­schen Demokratie die individuelle Freiheit zum Nachteil des sozialen Fort­schritts überbetont; dann kommt es zu einer Oligarchie der Reichen, welche sich zu Herren der Produktionsmittel aufschwingen und alle anderen in Wirtschaftssklaven verwandeln. Von entgegengesetzten Richtungen her ge­langen sie zu derselben Schlussfolgerung, nämlich dass die Menschen sich eine magere Disziplin auferlegen müssen, wenn sie sich wahrer Freiheit erfreuen wollen, so widersprüchlich das auch klingen mag, und dass das Gedeihen der Gesellschaft davon abhängt, das ihre Mitglieder diese Frei­heit selbstverantwortlich ausüben. Was ist ihre Schlussfolgerung anderes als die Bestätigung der Lehre, die der Islam seit 14 Jahrhunderten predigt? Es ist an der Zeit, das die Lehren der Geschichte, die Schlüsse der Philo­sophen und die Grundsätze der Religion zu Richtlinien für das Verhalten von Menschen und Gemeinschaften allerwärts würden.

Im Jahre 1951 widmete die juristische Fakultät der Universität Paris eine Woche dem Studium des islamischen Fiqh (Kanonisches Recht). Sie luden Fachleute aus muslimischen Ländern rund um die Welt für die Behandlung besonderer Punkte ein z. B.:

1.            kanonisches Eigentumsrecht beim Islam,

2.            Voraussetzungen für urkundliche Eigentumsübertragungen, worin das Wohl der Gesellschaft und der Öffentlichkeit gewahrt werden sollen,

3.            Verantwortung des Übeltäters,

4.            gegenseitige Beeinflussung von Glauben und kanonischem Recht im Islam.

Der Vorsitzende der juristischen Gesellschaft in Paris leitete die Konfe­renz und fasste am Ende das Ergebnis folgendermaßen zusammen: „Was auch immer unsere früheren Vorstellungen vom Recht des Islam, seiner Starrheit und Unzulänglichkeit beim Beurkunden von Transaktionen gewe­sen sein mögen, wir sahen uns gezwungen, sie in dieser Konferenz zu revi­dieren. Lassen Sie mich die neuen Einsichten zusammenfassen - neu, wie ich denke, für die meisten von uns, welche uns diese Konferenz, die sich in dieser Woche besonders mit dem Fiqh, dem kanonischen Recht des Islam, befasste, vermittelt hat. Wir sahen darin eine Tiefe felsenfester Prinzipien und bis in Einzelheiten gehende Sorgfalt, welche die Menschheit in ihrer Gesamtheit umfassen und daher in der Lage sind, auf alle kritischen Situa­tionen und Ereignisse unserer Zeit eine Antwort zu geben. In unserem Schlusskommuniqué sagen wir: Das kanonische Recht des Islam sollte zu einem gestaltenden Element aller neuen internationalen Gesetzgebung für die Bewältigung der heute anstehenden Fragen gemacht werden, weil es einen rechtlichen Schatz von stabiler Allgemeingültigkeit besitzt, welcher seinen Fiqh bei dem heutigen Durcheinander religiöser Ansichten und Ver­lautbarungen befähigt, es mit den dringenden Erfordernissen aufzunehmen, welche uns die neuen Lebensformen, die in der modernen Umwelt ent­stehen, auferlegt haben.“

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