Musawi Lari

Westliche Zivilisation und Islam

Sayyid Mudschtaba Musawi Lari

Ins Englische übersetzt von J.F. Goulding, hiernach ins Deutsche übertragen durch R.H. Sengler

Das folgende Manuskript ist eine geringfügig überarbeitete und sprachlich verfeinerte Version der 1995 in Qum erschienenen deutschen Übersetzung.

Delmenhorst 2004

Teil I - PHYSIOGNOMIE DES WESTENS

Genesis von Leben und Kultur des Menschen

Jeder Fontschnitt in der Untersuchungen über die Ursprünge des Lebens auf unserem Planeten drängt die Daten für seine Entstehung in immer fernere Zeiten zurück und vermehrt die Rätsel, die es zu entwirren, und die Pro­bleme, die es zu lösen gilt. Obwohl das menschliche Leben als solches verhältnismäßig jungen Datums ist - ein winziger Bruchteil des Zeitraums, in dem der Planet bereits lebende Materie ernährt hat - verdunkelt doch viel Ungewissheit die Ursachenforschung seiner Entstehung. Nichtsdestoweniger haben Wissenschaftlern und Paläoelogen es vermocht, durch Ausgrabungen, Bergung von Artefakten, Getreide und anderen Spuren menschlicher Handfertigkeit die Aufwärtsentwicklung des Menschen durch eine Reihe geschichtlichen Ein­schnitte wie folgt zu skizzieren:

a)     Das Paläolithikum - gekennzeichnet durch den Gebrauch einfacher Waffen für die Tötung von Tieren zur Selbstverteidigung oder Nahrungs­beschaffung; Steine, Stöcke und ähnliche Jagdwerkzeuge; Wildheit und Rohheit aus ständiger Furcht vor den Tieren; Höhlen und Erdlöcher als Schutz vor räuberischen Fleischfressern und von der Dunkelheit. Vorrang bekam der fähigste Jäger; alle menschliche Anstrengung war auf die Besie­gung von Gegnern ausgerichtet, ob es nun die feindliche Natur, Tiere oder Menschen waren.

b)     Das spätere Paläolithikum - Zum ersten Mal ging der Mensch dazu über, statt vorhandene Gegenstände als Werkzeuge zu gebrauchen, selbst welche herzustellen: Er band einen Stock an einen Stein und erfand so den Hammer, er brachte scharfe Kanten zuwege, indem er Feuersteine bearbei­tete; so entdeckte er bald die Kunst, Feuer zu schlagen und damit Nahrung zu kochen und ebenso der Nacht und der Dunkelheit Herr zu werden. Diese Entwicklungen zogen sich durch viele Jahnhunderte hin, bis das Paläolithi­kum schließlich überwunden wurde und

c)      die Jungsteinzeit einen vielseitigen und mannigfachen Wandel im Da­sein des Menschen brachte. Die Antefakten wunden zwar immer noch aus Stein und Holz hergestellt, aber die rohen, plumpen Geräte des Paläohithi­kums wurden durch prächtig regelmäßige, genaue und geglättete Werk­zeuge ersetzt. Man baute Hütten aus geflochtenen Weiden, die mit Schlamm übertüncht wurden. Die Erde wurde zu Töpfen und Kannen geformt, sodann zuerst in der Sonne und späten über dem Feuer getrocknet. Getreide wurde angepflanzt und der Boden zunächst einfach bearbeitet; bestimmte Tiere wurden gezähmt. Man lernte, welche Körner als Brotfrucht auszu­säen, welche Bäume zum Obst; und Holzgewinnung zu hegen seien. Der Mensch erfand Pfeil und Bogen und gewann so Oberhand über einige gefährliche Tiere; er erfand den Speer zum Fischfang. Die Pfeilspitzen, die Speere und Äxte bestanden aber immer noch aus zugehauenen Steinen. Aber das Geschick wuchs durch die Jahnhunderte (die uns ihre Spuren hinterlassen haben, damit wir ihr Leben rekonstruieren können), und führte sie schließlich aus der Steinzeit in die

d)     Bronzezeit: Metalle leiteten das, was wir Zivilisation nennen, erst richtig ein. Zivilisation hat die gleiche Wurzel wie das römische „civis“ und bedeutet „Leben in den Gemeinschaft“. Das drückt auch das „Ta-maddun“ des Arabischen aus (Wurzel M-D-N = (Stadt- oder Gemeinschaftsleben); das gleiche meint „Politik“ und „Polizei“ aus dem griechischen „polis“, „urban“ von „urbs“ usw. Denn hiermit erhielt das Leben des Menschen einen neuen Aspekt, betrat eine neue Phase. Der Mensch war nicht mehr ein bloßes hungriges Tier, das immerfort mit der Nahrungssuche zu tun hatte. Von der Konzentration auf seinen Bauch und dessen Bedürfnisse schwang er sich zu Träumen und Visionen, zu einem aktiven Bewusstsein dessen auf, woraus die Welt um ihn bestand. Je mehr Siege er errang in seinem Kampf mit der Natur, desto mehr Wünsche und Notwendigkeiten empfand er. Er befreite sich aus der Barbarei und fand endgültig den Weg zur Zivilisation: befreit von den Fesseln der Unwissenheit und Dumpfheit, die ihm seine Lage aufgezwungen hatten, machte er sich auf den Pfad des Lernens und systematischen Wissenschaft.

 

Der Fontschnitt des menschlichen Lebewesens hob sich vom Stillstand anderen Arten durch einen geistigen Faktor ab. Eine innewohnende Eigen­schaft, die wir Intellekt oder Verstand nennen, die erstaunlichste aller Phä­nomene, gab dem Menschen rückblickende Erkenntnis und Voraussicht, Vergangenes einzuordnen und zu verbessern und neuartige Methoden bereitzuhalten. Jeden Schnitt nach vorn prägte sich dem Erinnerungsvermögen des Stammes ein. Ein Gefühl von Nicht-Befriedigsein über Unvollkommenes spornte ihn an, es besser zu machen. So entfaltete sich jenes unsichtbare, unbeschreibliche, wunderbare Phänomen des „Geistes“. Sein Licht bewinkt, das er Gegenstände und Ereignisse bemerkt, darüber reflek­tiert, aus der Erfahrung lernt und die gewonnenen Informationen in jenem erstaunlichen Computer, den wir „Gehirn“ nennen, als „Gedächtnis“ spei­chert. Dort steht es fortan zur Verfügung für den Entwurf neuer Hypothe­sen, Visionen, Experimente und Fortschnitte.

Zwei weitere Erzeugnisse menschlichen Scharfsinns entwickelten sich im Nebel prähistorischer Zeiten:

1.      Die Erfindung des Rades, für den Transport - zuerst nur für das Rollen schwerer Gegenstände auf Baumstämmen, dann die Achse zwischen runden Scheiben, dann der daraus entwickelte Wagen, eingefügt zwischen nichtigen Rädern mit Achse, Naben, Speichen, Felgen und Reifen.

2.      Die Sprache - Geräusche, die man begriff als Mittel, Impulse von einem menschlichen Gehirn zu einem anderen weiterzuleiten; sodann die Übereinkunft, bestimmten Lauten, die jedes Mal ausgestoßen wurden, die gleiche Bedeutung zuzuerkennen (Knurren für Furcht oder Warnung, Brüllen für Zorn, Gurren aus Liebe); dann die Bezeichnung von Ausdrücken, Befehlen wie „komm“, „geh“, „hole“, „lauf“, bis zu Abstraktionen, Begriffen, Ideen, Projekten und Verehrung der Kräfte, welche die launische Natur beherrschten. Mit der Sprache entstand Gemeinschaft und der Keim zu wahrer Zivilisation. Als schließlich bestimmte Zeichen als Repräsentanten bis dahin willkürlicher Laute akzeptiert wurden, welche Gedanken darstell­ten, entstand aus den Vorgeschichte die geschriebene Geschichte.

Vorgeschichte wird zurückverfolgt aus Spuren und Beweismaterial, das ausgegraben und interpretiert wird. Geschichte beginnt da, wo es schriftliche Aufzeichnungen zu konsultieren gilt. Diese Erfindung des Schreibens war der revolutionärste Blitz des Genius. Es fing mit Besitzlisten an, Geld­anweisungen, die durch Abbilder der Gegenstände dargestellt wurden (Schafe, Vieh, Gefäße, Kornmaße), dann mit Strichreihen, welche Zahlen bedeuteten; dann mit Symbolen, welche die Natur der Transaktion bezeich­neten, also die Namen und Empfänger, und so schrittweise bis zu Symbolen für jedes beobachtete Phänomen, für ihre Beziehungen untereinander und schließlich für Abstraktionen wie Farbe, Gestalt und Begriff. Einige Völker, wie die Chinesen, blieben im Bildstadium stehen (siehe ägyptische Hierogly­phen). Andere Völker gingen weiter und analysierten die wortbildenden Laute, wobei das gleiche Zeichen für den gleichen Laut genommen wurde, unabhängig von seinen Bedeutung. In diesen besitzen wir alles, was wir von den vergangenen sechs Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte wissen.

Inzwischen machte die Holzbearbeitung große Fontschnitte. Genaues Messen wurde möglich. Man lernte, dem Gestein durch Schmelzen Erze zu entlocken, sie zu gießen und zu härten - zunächst Weichmetalle wie Zinn und Kupfer und ihre Legierung, die Bronze. Als man diese Fertigkeiten auf das härtere Eisen anwandte, wich die Bronzezeit der „Eisenzeit“ und damit dem wahren Beginn der Moderne.

Von 4000 Jahren dämmerte dem Stammvater Abraham die wahre Reli­gion, als er dem Ruf des allmächtigen Gottes auf babylonischer Erde Folge leistete. Der Weltschöpfer beauftragte ihn mit der Aufgabe, die babylo­nische Gesellschaft aus der Finsternis herauszuführen. Er erhielt das erste Apostolat als Sprecher Gottes, um die Menschheit aus Aberglauben und Sünde um sich zu scharen. Natürlich traf er auf Opposition, auf Widerstand von solchen, denen angestammte Interessen auf Falschheit und Sünde beruhten. Aber Abrahams prophetische Verkündung des Monotheismus und der sittlichen Gottesverehrung ließ ihm eine Gefolgschaft erstehen, welche die vereinigte Front seiner Gegner - die Anhänger Ahrimans und der Möchtegern-Despoten über den Geist des Menschen - bei weitem übertraf. Abraham gehorchte dem Ruf, seine väterliche Heimat zu verlassen, und nach vielen Tausenden von Meilen nomadischen Dahinziehens fand er seine Heimstatt im Hidschas, wo sein Sohn Ismael den zentralen Schrein des Monotheismus aufrichtete.

Siebeneinviertel Jahrhunderte von Christus wurde Rom gegründet und breitete in den folgenden Jahrhunderten seine Herrschaft weithin aus. Nicht lange nach der Gründung Roms stand Zoroaster (Zardusht) im Iran auf und ersetzte die Zauberkünste der Magier durch rationale und ethische Bezie­hungen zwischen den Menschen und dem Gott des Guten im ewigen Kampf gegen das Böse. Fast im gleichen Jahnhundert legten Konfuzius und Lao-Tse in China und Gautama den Buddha in Hind den Grund zu einer Welt­anschauung, die von Sokrates, Platon und Aristoteles in Griechenland wäh­rend des darauffolgenden Jahnhunderts fortentwickelt wurde. All dies fand seine Vollendung in der Geburt und dem Leben des Jesus Christus durch seinen Ruf, die menschliche Gesellschaft zu erneuern, die Menschheit von den Be­schmutzungen des Materialismus unter Juden zu befreien, Fäulnis und gegen­seitigen Totschlag auszurotten und der Menschheit den Weg zu ethischer und spiritueller Reinigung zu weisen. Dieses Zeitalter wurde durch ein Wachstum an gegenseitigem Austausch, Gewerbe, Baukunst und ärztlichem Geschick gekennzeichnet.

476 AD begann das Mittehalter in Europa. Die Kirche steigerte ihre weltliche Macht zu geistigen Führerschaft und beherrschte das Denken und Leben den Gesellschaft, während Europa in die dunklen Zeiten barbarischer Invasion, Unwissenheit, Blutvergießens, nationalistischer und Stammes-Eifersüchteleien verfiel.

Im Osten unterdessen begründete die Kultur des Islam ihre Herrschaft (s. Teil II). Im Jahre 1453 nahm Sultan Mohammed Fatih Istanbul ein und ein neues Zeitalter begann. England, Frankreich, Deutschland, Österreich, die neuen unabhängigen Nationen, wetteiferten in Europa miteinander um Ausdehnung. Der magnetische Kompass befähigte die Schiffe, den Atlantik zu überqueren und Amerika zu entdecken. Eine Renaissance der Gedanken und des Wissens fegte über Europa und brachte geordnete internnationale Beziehungen zustande, bis die Französische Revolution von 1789 diesem Zeitalter ein Ende bereitete; die Industrielle Revolution beherrschte das 19. Jahrhundert und veränderte das Antlitz Europas. Eine Erfindung folgte der anderen, die Entdeckungen überstürzten sich. Die Geschichte Europas trat in ihre neueste, moderne Phase ein.

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