Mittelalterliche Muslime
Das, was ich als Islam kannte bzw. dachte, davon zu
kennen – daran gab es für mich am Anfang meines Studiums kaum
einen Zweifel – war eine rückständige Religion, die für
Unwissenheit und Armut in der Welt mitverantwortlich war. Zwar
habe auch ich von früher Kindheit an das islamische Fasten
gelernt und immer im Monat Ramadan praktiziert – auch als ich
aus dem Elternhaus ausgezogen war, aber das ließ sich gut mit
meinem Weltbild zum Einsatz für die Hungernden vereinbaren!
Ein
bezeichnendes Ereignis der damaligen Zeit vergesse ich nie:
Ein durchaus begabtes Mädchen von ca. zwölf Jahren aus einem
türkischen Elternhaus sollte auf Wunsch der Eltern auf der
Hauptschule bleiben, weil sie angeblich ohnehin bald
verheiratet werden würde, obwohl sie schulisch zu viel mehr
fähig war. Die verzweifelte Lehrerin, die der Schülerin
mindestens zu einem Realschulbesuch verhelfen wollte, bat die
ESG und damit mich als Türkischsprachigen um Hilfe, damit ich
bei einem Gespräch mit den Eltern als Dolmetscher fungiere.
Lehrerin, ESG-Mitarbeiter und ich standen also angekündigt vor
der Tür dieser muslimischen Familie. Wir wurden von der
Tochter höflichst hereingebeten. Am Wohnzimmertisch saß der
Familienvater in noch grausamerem Zustand, als ich es mir in
meinen schlimmsten Vorurteilen jemals vorgestellt hatte: Im
Unterhemd, mit herausquellenden Haaren, und er war gerade
dabei, seine Fußnägel zu schneiden, wovon er sich auch durch
unsere Anwesenheit nicht abhalten ließ! Die Erfolglosigkeit
des Gesprächs war bereits vorprogrammiert! Das junge Mädchen
tat mir leid, aber wir waren hilflos! Und ich verband das
reflexartig mit dem Islam und den Muslimen, zu denen ich zwar
aus Geburtsgründen gehörte, aber von denen ich mich in solchen
Momenten leichten Herzens distanzieren konnte!
Überhaupt, es konnte doch nicht Gottes Plan gewesen sein, dass
wir je nach Geburtsort, Elternhaus usw. einer bestimmten
Religion angehörten. Wo war die bewusste Entscheidung für oder
gegen etwas? Warum waren die meisten Norddeutschen evangelisch
und die Süddeutschen katholisch? Die regionale Historie konnte
doch nicht Maßstab für die Gotteserkenntnis sein. Wenn nur
eines von vielen Wegen am richtigsten sein konnte, und die
meisten Menschen den Weg zu Gott bewusst wählen, dann müssten
doch die meisten Menschen Konvertiten sein! Für meinen
politischen Einsatz für Nicaragua spielten diese Gedanken aber
zunächst keine Rolle.
In
Nicaragua kämpften die Menschen gegen den US-Imperialismus.
Und sie engagierten sich im Namen Gottes, was mich damals sehr
beeindruckte, denn zweifelsohne waren sie der David, der
versuchte, sich gegen den Goliath zu behaupten. Und für mich
war klar, dass ich immer auf der Seite Davids stehen wollte
und nie auf der Seite irgendeines Goliaths.
In
dieser Zeit habe ich viele Fragen auch direkt an meinen
Schöpfer gestellt. Ich war mehr als überrascht, diese relativ
schnell beantwortet zu sehen. Es ist schwer, dieses Gefühl zu
beschreiben. Ich habe es auch nie geschafft, dieses meinen
Freunden und Bekannten zu übermitteln, aber es ist reell, und
ich wünsche es jedem Menschen, diesen direkten Kontakt mit
seinem Schöpfer zu suchen. Natürlich hat es auch in dieser
Zeit viele Diskussionen mit meinen Freunden gegeben. Und die
gibt es auch heute noch. Auch dafür bin ich dankbar.
Die
Erkenntnisse, die ich über den Islam gesammelt hatte, waren
für mich äußerst verblüffend. Auch konnte ich
bedauerlicherweise feststellen, dass genau wie auch im
Christentum nicht jeder Muslim über seine Religion Bescheid
wusste.
Jahrelang konnte ich nicht begreifen, wie es sein konnte, dass
ein in das Judentum Hineingeborener, genau wie ein in das
Christentum Hineingeborener und auch jemand der in den Islam
hineingeboren wurde, von sich behaupten konnte, die absolute
Wahrheit zu besitzen. Da alle drei gewisse Unterschiede
aufwiesen, konnten nicht alle drei richtig sein. Aber ich
konnte auch nicht glauben, dass der Schöpfer so ungerecht ist
und jemanden von Geburt an richtig leitet und den anderen von
Geburt an falsch leitet!
Es ist
im Rahmen dieses Buches kaum möglich und auch nicht unsere
Absicht, detailliert und umfassend die einzelnen Aspekte des
islamischen Glaubens zu erläutern. Inzwischen gibt es
umfangreiche deutschsprachige Literatur aus muslimischen
Quellen dazu. Allerdings möchte ich schon andeuten, warum der
islamische Glaube mich so fasziniert hat. Ich wollte schon
immer jedes Detail meiner eigenen Gefühle, Gedanken und
Antriebe verstehen. Und wie ich es ja auch schon erwähnt
hatte, wollte ich das Leben ganzheitlich erfassen. Damit meine
ich, einen zeitunabhängigen Blick auf die Geschehnisse dieser
Erde und die Schöpfung selbst zu bekommen, der es ermöglicht,
unbeeinflusst vom instabilen “Zeitgeist“ urteilen und die für
mich richtigen persönlichen Handlungsweisen ableiten zu
können. Genau diese alles umfassende Sicht fand ich in den
Glaubensinhalten des Islam.
Das
Faszinierendste für mich war festzustellen, dass der
Erkenntnisgewinn durch gelöste Fragestellungen eine wiederum
größere Anzahl von neuen Fragen nach sich zieht. Den Islam zu
erforschen bedeutete somit, immer mehr über mich und meine
Umwelt zu verstehen. Natürlich ist es schwer diese innersten
und persönlichen Erfahrungen offen zu legen. Jedoch wünsche
ich jedem Menschen, einmal in seinem Leben einen Kontakt mit
seinem Schöpfer aufzubauen, um von der unendlichen Güte
profitieren zu können.
Es
freute mich zu sehen, dass meine Zuneigung zu dem Judentum und
dem Christentum, insbesondere zu den Propheten Moses und Jesus
im Islam fest verankert war. Aber gerade bei dieser Thematik
macht der Islam deutlich, dass kein Mensch, dadurch dass er
als Jude, Christ oder Muslim geboren ist, automatisch “gut“
oder automatisch “schlecht“ ist, sondern jeder wird am Ende
seines Lebens nach seinen Taten relativ zu seinen
Möglichkeiten beurteilt werden. Jeder Mensch hat die
persönliche Verantwortung die Wahrheit zu suchen und danach zu
handeln. Den Antrieb für das Suchen hat der Schöpfer uns in
die Wiege gelegt. Und letztendlich ist alles Gute der Gnade
des Allmächtigen zu verdanken.