Muslime wählen auch bei
Bundestagswahlen
Eine
viel größere Dimension unseres Engagements gab es zu den
Bundestagswahlen 2002. Obwohl die deutschen Muslime eigentlich
eine recht hohe Zahl an Wählern darstellen, ist es für Muslime
zum Teil sehr schwer, in Wahlprogrammen neben den
Informationen, die praktisch alle interessieren, Antworten auf
die speziellen Fragen der Muslime zu bekommen. Um auch die
deutschen Muslime am Wahlprozess zu beteiligen, hatten wir die
Idee im Rahmen der inzwischen gewachsenen und durchaus
bekannten Internetplattform Muslim-Markt, einen spezifischen
Fragebogen auszuarbeiten und an alle Parteien zu senden. Damit
die Fragen möglichst viele Probleme der Muslime behandeln,
haben wir die Leser des Muslim-Markt gebeten, ihre Fragen zu
sammeln.
Nach
einem langen Diskussionsprozess im Internet hatten wir eine
umfangreiche Fragenliste an die Parteien erstellt und an alle
großen wie auch kleinen Parteien verschickt. Die Antworten
wollten wir im Internet den Lesern unkommentiert zur Verfügung
stellen. Der Fragenkatalog war aufgeteilt in Innenpolitik,
Außenpolitik und Wirtschaftspolitik.
Es
würde hier zu weit führen, alle Antworten
aller antwortenden Parteien aufzulisten. Daher beschränken wir
uns exemplarisch auf die kurze aber kritische Frage, die alle
Parteien offensichtlich auf der Achillesverse traf: „Können
Sie sich eine Muslima mit Kopftuch in einer leitenden Funktion
Ihrer Partei vorstellen?“ Und wir geben hier nur die
Antworten der vor den Wahlen (also zum Zeitpunkt der Antwort)
im Bundestag vertretenen Parteien wieder.
Die
damalige PDS (heute Linke) antwortete: „Für die PDS stellt
sich die Frage eher andersherum: Kann sich eine Muslima, die
aus religiösen Gründen ein Kopftuch trägt, eine leitende
Funktion in unserer Partei vorstellen? Wenn ja, ist sie der
PDS herzlich willkommen.“
Die SPD
hatte auf sehr viele Fragen teilweise sehr ausführliche
Antworten gegeben, aber diese Frage unbeantwortet gelassen.
Die
FDP, für die damals Möllemann ausdrücklich auch deutsche
Muslime zur aktiven Teilnahme an seiner Partei warb, sandte
eine pauschale Antwort auf alle Fragen: „Bitte haben Sie
Verständnis dafür, dass wir angesichts der Vielzahl von
eingehenden Fragenkatalogen von Verbänden und Organisationen
nicht in der Lage sind, die Fragen alle einzeln zu
beantworten. Gerne sind wir bereit, Ihnen das
Bundestagswahlprogramm der FDP nach Beschlussfassung auf dem
Bundesparteitag in Mannheim ... zur Auswertung zur Verfügung
zu stellen. Sie werden zum weit überwiegenden Teil für Ihre
Fragen dort sehr konkrete Antworten finden.“
Die
erstaunlichste Antwort aber kam von den Grünen, ebenfalls
pauschal auf alle Fragen: „Ihre Website erscheint uns so
einseitig, dass wir nicht dazu beitragen möchten, deren
Attraktivität durch unsere Beteiligung zu erhöhen. Deshalb
verzichten wir auf Ihr Angebot, die von Ihnen gestellten
Fragen zu beantworten.“
Diese
Antwort hat uns wirklich überrascht. Es waren doch gerade die
Grünen, die insbesondere zur Gründungszeit häufig versuchten,
auf Missstände insbesondere in der Umwelt und in der
Außenpolitik aufmerksam zu machen und deshalb von der gesamten
Medienlandschaft immer wieder in die Ecke von Anarchisten
gedrängt wurden. Als Jugendlicher, der kaum die Hoffnung
hatte, etwas politisch bewegen zu können, war ich begeistert
zu sehen, dass es trotz der ständigen einseitigen
Medienangriffe möglich war, in den Bundestag einzuziehen.
Natürlich konnten die Lügengeschichten der Medien über die
Grünen für mich die Attraktivität nicht mindern, auch wenn ich
nicht mit allen Punkten übereinstimmte. Umso mehr war ich von
der unglaublichen Arroganz überrascht, mit der die Grünen
einen von mehreren hundert Muslimen ausgearbeiteten Fragebogen
zurückgeschmettert haben. Es ist wohl nicht erforderlich
aufzuzählen, wie die prominentesten Mitglieder dieser Partei
sich noch vor kurzem gegenüber der Staatsgewalt verhalten
haben. Wir haben keine Straftat begangen und auch keine
Polizisten mit Steinen beworfen. Als Bürger dieses Landes
wollten wir nur einige Informationen haben. Aber es hat wohl
seinen Grund, warum die Grünen nicht mehr von den Medien so
wie früher angegriffen werden. Damals konnten wir auch nicht
ahnen, dass die Grünen sich später zu einer Art
Kriegsunterstützerpartei entwickeln würde; so zumindest unsere
spätere Wahrnehmung.
Die
CDU/CSU antwortete als einzige Bundestagspartei überhaupt
nicht!
Das war
also der Integrationsansatz für praktizierende Muslime in
Deutschland. Die einzige Partei im Bundestag, die Kopftuch
tragende Muslimas willkommen hieß, war die Partei, die den
Sprung in den nächsten Bundestag nicht mehr geschafft hatte.
Bezeichnender konnten die Antworten kaum ausfallen; inzwischen
aber ist sie wieder drin. Bei späteren Wahlen, auch
Landtagswahlen, wurden immer wieder Fragebögen an die Parteien
versandt mit teils sehr unterschiedlichem Erfolg. Später haben
mehrere muslimische Gruppen die Idee der Befragung der
Parteien aufgegriffen und Vertreter der Parteien vor Wahlen in
die Moscheen eingeladen.