Charlie Chaplins Beispiel
Von allen Beispielen, die für die Erklärung dieses Problems
erwähnt werden, ist das Beispiel, das Charlie Chaplin gebracht
hat, am einleuchtendsten. Charlie zeigt in dem Film "Moderne
Zeiten" einen Mann, der erst ein freier Mensch gewesen war,
Gefühle besaß, seine Freundin liebte, seinen Vater
respektierte, den alten Freunden, die ihn besuchten, Gefühle
entgegenbrachte. Er fühlte die Not, konnte Kummer empfinden,
er verspürte das Bedürfnis, jemanden sein Herz auszuschütten,
er reagierte auf die Gegebenheiten und Nöte des Lebens auf
verschiedene Weise, er hatte Fähigkeiten und Empfindungen
unterschiedlicher Art.
Wenn dieser Mensch auf der Straße seine Mutter sah, empfand
er Gefühle eines Sohnes, der nach langer Zeit seine Mutter
wiedersah; wenn er einen Freund, den er lange nicht gesehen
hatte, wiedersah, hatte er das Bedürfnis, mit ihm
zusammenzukommen, sich nach seinem Befinden zu erkunden und
ihm vom Leben und der Vergangenheit zu erzählen; wenn er seine
Geliebte sah, empfand er Liebe und Zuneigung, wollte mit ihr
zusammenkommen und über seine Gefühle und Empfindungen reden;
wenn er den Feind sah, empfand er Hass: die abstoßenden und
unheilvollen Erinnerungen der Feindschaft wurden wach. Er
wollte kämpfen, ihn beleidigen und sich rächen. Er war
schließlich ein Mensch und hatte mannigfaltige Bedürfnisse und
Empfindungen; wenn er im Leben eine schöne Aussicht sah,
bereitete sie seinem ästhetischen Empfinden Vergnügen. Das
Hässliche erweckte in ihm das Gefühl des Abscheus und des
Unheils. So reagiert ein natürlicher Mensch!
Dann geht er in einer Fabrik arbeiten. Eine Fabrik, von
deren Größe und Kompliziertheit er sich kein rechtes Bild
machen kann. Er weiß nicht, was dieser ungeheuer große Apparat
von Menschen und Technik leistet und wie sie koordiniert
werden. Er geht in ein Büro und legt einige Ausweispapiere und
Lichtbilder vor, ihm wird gesagt, an wen und an welche Nummer
er sich wenden soll. Er begibt sich in den Warteraum. In einem
langen Flur wird er in ein Zimmer geführt, ein Herr zeigt ihm
seine Arbeit. Was ist sie? Nichts besonderes. Ein großer Saal,
in dem sich ein Metall-Fließband in regelmäßiger
Geschwindigkeit fortbewegt. Das Band kommt von einer Seite des
Raumes und führt in die anderen Räume, Anlagen und Abteilungen.
Der Mann weiß nicht, woher das Band kommt, wohin es geht und
warum er diese Arbeit leisten muss. 7-8 Leute stehen hier
nebeneinander. Seine Arbeit besteht darin, dass er jede 3.
Schraube auf dem Fließband einmal anzieht, die andere dritte
Schraube auf dem Fließband einmal anzieht, die andere dritte
Schraube zweimal anzieht, die andere dritte Schraube nur bis
zur Hälfte usw. 8-9 Stunden setzt er diese Arbeit fort. Nach
dem Gongschlag geht er nach Hause. Er macht sich keine
Gedanken darüber, woher diese Schrauben kommen, warum er so
arbeitet, woher das Band kam, wohin es ging, was er herstellt.
Er kann sich keinen Reim auf die von ihm verrichtete Arbeit
machen.
Die Leute, die neben ihm stehen, können überhaupt nicht
miteinander reden, denn das Band bewegt sich mit solch einer
Geschwindigkeit, dass keiner imstande ist, aufzublicken, sonst
rast die Schraube vorbei, die Arbeit im Werk muss ruhen und
der Betreffende wird bestraft und hinausgeworfen.
Der Mensch besteht aus 2 Augen, die auf Schrauben achten,
seine menschliche Handlung besteht darin, die Schrauben
einmal, zweimal oder bis zur Hälfte anzuziehen – sonst nichts.
Der Mensch ist aber ein Lebewesen, das u.a. die
Eigenschaften hat, die von ihm verrichtete Arbeit abzuwägen.
Bei der Wahl der Arbeit hat er eine Zielvorstellung, er wählt
dieses Ziel nach seiner Vorstellung, und nachdem er die Wahl
getroffen hat, bereitet er die Arbeit vor. Während seiner
Tätigkeit hat er das Gefühl, dass er für dieses Ziel arbeitet.
Abgesehen von diesem Gefühl, von diesem Bewusstsein seiner
Arbeit gegenüber, hat er unterschiedliche Gefühle und
Bedürfnisse.
Der Arbeiter, der in Chaplins Film dargestellt wird, hat
sich noch nicht an die eintönige, eindimensionale mechanische
Ordnung gewöhnt. Wenn seine Geliebte, seine Mutter, sein Sohn
ihn während der Arbeit besuchen, verlässt er seine Schrauben,
erkundigt sich nach ihrem Befinden, klagt über die Trennung,
fordert sie zum Sitzen und Teetrinken auf.
Auf einmal sieht er Polizisten hineinströmen, die
Warnlampen gehen an, die Inspekteure kommen herein.
Was ist passiert? Die Kontrollapparate haben festgestellt,
dass eine Schraube ohne angezogen worden zu sein die Reihe
passiert hat. Alles steht still – sie kommen und nehmen ihn
fest: Was hast du angerichtet?
Bei einer einfachen, natürlichen, menschlichen
Gefühlsregung von ihm stürzt die ganze Ordnung zusammen, d.h.
unter den jetzigen Verhältnissen hat der Mensch nicht die
geringsten Möglichkeiten zur Äußerung seiner Gefühle. Er passt
da nicht hinein. Dieser gefühlsbetonte Mensch wird aber so an
die Ordnung gewöhnt und so mechanisch erzogen, dass die
Definition des Menschen, der Mensch sei ein sprechendes,
liebendes, selbstbewusstes und schöpferisches Lebewesen, nach
20 Jahren Arbeit für ihn nicht mehr gilt.