Nun, was bedeutet eine Mosaikgesellschaft?
Das Mosaik setzt sich aus Hunderten kleiner bunter Steine
zusammen, die in einer Form zusammengepresst worden sind.
Welche Form besitzen sie selbst? Gar keine! Die Mosaiksteine
haben verschiedene Farben, verschiedene Teile, die keine
besondere Form bilden. Die Zivilisationen sind ebenfalls
Mosaikzivilisationen. Etwas Material besitzen sie von alten
Zeiten, einige Materialien ohne Form und Norm aus Europa
eingeführt; daraus setzt sich das Mosaik einer halb
zivilisierten, halb modernisierten Gesellschaft zusammen. Für
den Aufbau einer zivilisierten Gesellschaft haben wir nicht
das aussuchen können, was für den Aufbau der europäischen
Zivilisation notwendig war. Die Zusammensetzung des Mosaiks
wurde auch von ihnen bestimmt; denn wir wussten nicht, was
„Zivilisation“ ist und welche Form sie hat. Ohne zu wissen,
was wir in dieser Gesellschaft aufbauen sollten, bevor wir uns
entscheiden konnten, wie wir unsere Gesellschaft nach eigener
Denkweise gestalten und nach einem vorgegebenen Plan Elemente
eigener bzw. fremder Kultur hineinbringen, haben wir ohne Plan
unterschiedliche Elemente aus aller Welt zusammengeworfen,
worin sich europäische, eigene, vergangene, gegenwärtige
Materialien in einem Haufen befinden – ohne Form, ohne
Gestalt. Es wurde eine modernistische Gesellschaft ohne Form
und Ziel aufgebaut. Das sind nicht-europäische Gesellschaften,
die innerhalb eines bzw. ein und halb Jahrhunderts die
Materialien unter der Bezeichnung Zivilisation aus Europa
übernommen haben. Auf welche Ursprünge geht die form- und
ziellose Mosaikzivilisation in den nicht-europäischen Ländern
zurück, in denen weder die Bevölkerung noch die Denker wissen,
warum sie leben, wofür sie leben, welche Zukunft auf sie
wartet und welche Ansichten sie vertreten?
Vom 17. bis zum 19. Jahrhundert wurde die Maschine in
Europa entdeckt und entwickelt. Sie blieb in der Hand des
Kapitalisten und des Reichen. Eine Maschine muss die
Produktion steigern, solange sie arbeitet, das ist eben ihre
Bestimmung. Wenn eine Maschine ihre Produktion innerhalb 10,
11 Jahren nicht steigert, ist sie dem Untergang geweiht. Sie
kann die Arbeit nicht fortsetzen, sie ist gegenüber den
anderen Maschinen nicht mehr konkurrenzfähig, denn wenn sie
die Produktion nicht steigert, können die anderen Maschinen,
die die gleiche Ware produzieren, sie bei einer höheren
Produktion den Konsumenten billiger zur Verfügung stellen. So
kann die teure Ware nicht verkauft werden. Um den Arbeitslohn
zu erhöhen und gleichzeitig die Ware billiger als die
Konkurrenz anbieten zu können, muss die Produktion gesteigert
werden. Die Maschine wurde dabei von Wissenschaft und Technik
unterstützt. Sie konnte ihre Produktion ständig steigern. Das
führte zu einer Veränderung der Menschheit. Wir dürfen nicht
denken, dass dieses nur eines der vielen Probleme in der Welt
ist. Dieses ist d a s Problem, mit dem man in den letzten 2
Jahrhunderten konfrontiert ist. Alle Fragen, die Europa heute
der Welt stellt, beruhen auf diesem Problem.
Die Maschine muss jedes Jahr die Produktion progressiv
steigern. Damit die Ware nicht liegen bleibt, muss der Konsum
ebenfalls gesteigert werden. Der Verbrauch kann jedoch nicht
in dem Maße wie die Produktion erhöht werden. Es ist möglich,
dass in einer Gesellschaft innerhalb der letzten 10 Jahre der
Verbrauch von Papier um 10% gestiegen ist. Es gibt aber
Papier produzierende Maschinen, die in dieser Zeit ihre
Produktion um 300% gesteigert haben; oder vor 10 Jahren hat
eine Maschine in einer Stunde beispielsweise 5 Km Papier
produziert, jetzt produziert sie, nach 10 Jahren, 50 Km. So
schnell aber ist der Verbrauch in dieser Zeit nicht gestiegen.
Was soll man mit der Überproduktion machen? Man muss für neuen
Konsum sorgen. Jede europäische Gesellschaft verbraucht eine
bestimmte Menge. Infolge der schwindelerregenden und
progressiven Steigerung der Produktion kann man die Bevölkerung
nicht zwingen, ihren Verbrauch ebenfalls zu steigern. Weil die
Maschine dem Zwang der Überproduktion unterworfen ist, müssen
die Grenzen überschritten und außerhalb der eigenen
Gesellschaft Absatzmärkte gesucht werden.
Als im 18. Jahrhundert die Maschine zusammen mit der neuen
Technik und Wissenschaft in die Hände des Kapitals fiel, war
das Schicksal des Menschen besiegelt. Alle Menschen der Erde
wurden gezwungen, die produzierte Ware zu verbrauchen. Die
Märkte Europas waren schnell gesättigt, die Überproduktion
musste zwangsläufig nach Afrika und Asien exportiert werden.
Afrikaner und Asiaten mussten die europäische Ware
verbrauchen, weil es die Arbeitsweise der Maschine so
erfordert. Kann man die Waren so einfach in den Orient bringen
und die Bevölkerung zwingen, sie zu verbrauchen, obwohl ihre
Lebensart den Verbrauch solcher Waren nicht erfordert?
Unmöglich! Kommt man in eine asiatische Gesellschaft, so sieht
man, dass die Kleider von den Frauen oder einheimischen
Werkstätten genäht werden. Sie haben ihre örtliche Kleidung
und ziehen sie an. Die Kleider und Stoffe, die von modernen
europäischen Maschinen produziert werden, finden hier keinen
Absatz. Kommt man in eine afrikanische Gesellschaft, stellt
man fest, dass das Vergnügen und die Unterhaltung der
Bevölkerung aus Reiten und Pferdezucht bestehen. Sie haben
überhaupt keine Straßen, keine Fahrer. Das Auto ist für sie
kein Begriff. Sie brauchen keine Maschine. Sie leben in einem
ausgewogenen Verhältnis von Produktion und Verbrauch, das mit
ihren Traditionen, Bedürfnissen und Geschmacksrichtungen
übereinstimmt. Sie empfinden kein Bedürfnis zum Gebrauch
europäischer Autos.
Eine europäische Firma produziert große Menge von
verschiedenen Kosmetikartikeln; sie steigert ständig die
Qualität und Quantität. Diese Waren müssen in afrikanische und
asiatische Länder eingeführt werden. Es wäre unmöglich
gewesen, dass die Frauen und Männer in Asien und Afrika im 18.
und sogar 19. Jahrhundert diese Waren verbraucht hätten, auch
wenn man sie ihnen kostenlos zur Verfügung gestellt hätte;
denn sie schminken sich nach ihrer eigenen Art, sie hatten
ihre eigene Schönheitsvorstellung. Die afrikanischen und
asiatischen Frauen brauchen diese Waren nicht, um schön
auszusehen oder sich zu schminken. Sie brauchten diese
absurden Dinge nicht, sie hatten ihre eigenen Schmink- und
Schmucksachen, die allen gefielen und von allen benutzt
wurden. Sie verspürten kein Bedürfnis, sie zu verändern
So wäre das kapitalistische Europa aber auf diesen Waren
sitzen geblieben. Diese Menschen, die nach ihrer eigenen
Denkweise mit ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen lebten
und Waren für ihre Bedürfnisse produzierten, wären nicht
imstande gewesen, Verbraucher der Waren europäischer Industrie
des 18. Jahrhunderts zu sein. Was sollte man da tun? Man
musste eben die Menschen in Asien und Afrika zu Verbrauchern
europäischer Waren umerziehen. Ihre Gesellschaft musste so
umgeordnet werden, dass sie europäische Waren kaufte – also
die Veränderung eines Volkes. Das Volk musste verändert
werden, damit man die Form seiner Kleidung, seine
Konsumgewohnheit, die Form seiner Stadt ändern konnte. Mit
welcher Veränderung bewirkt man es? Mit der Veränderung seines
Geistes. Wer kann den Geist einer Nation, die Denkweise einer
Gesellschaft ändern? Dazu sind weder der europäische
Kapitalist noch der europäische Ingenieur oder diejenigen, die
diese Waren produzieren, imstande. Da mussten die europäischen
Denker heran, um einen besonderen Plan zu erarbeiten, damit
der Geschmack, die Denk- und Lebensweise des Nicht-Europäers
geändert werden konnten. Das sollte natürlich nicht nach
seiner eigenen Wahl geschehen, sonst könnte er sich wieder so
verändert haben, dass er kein Verbraucher dieser Waren würde.
Geschmäcke, Sorgen, Leiden, Wünsche, Ideale, ästhetische
Empfindungen, Traditionen, soziale Verhältnisse,
Entspannungsbedürfnisse mussten so verändert werden, dass der
Mensch gezwungenermaßen zum Verbraucher der europäischen
Industriewaren wurde. So übertrugen die großen Produzenten und
Kapitalisten des Europas des 18. und 19. Jahrhunderts den Plan
den Denkern. Der Plan lautet, dass alle Menschen auf der Erde
vereinheitlicht werden müssen. Sie müssen die gleiche
Lebensform und die gleiche Denkweise haben. Alle Völker der
Welt haben aber nicht die gleiche Denkweise. Was macht die
geistige und schöpferische Identität und Qualität eines
Menschen bzw. eines Volkes aus? Seine Religion, seine
Geschichte, seine Kultur, seine vergangene Zivilisation, seine
Erziehung, seine Tradition. Sie sind die Faktoren, die
geistige und schöpferische Identität und Qualität eines
Menschen und eines Volkes ausmachen. Diese Faktoren sind in
den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich. In Europa sind
sie anders als an jedem Ort in Asien und Afrika. Sie sollen
jedoch vereinheitlicht werden; um das zu erreichen, müssen die
unterschiedlichen Denkweisen, die bei jedem Volk, an jedem Ort
und jeder Gesellschaft anzutreffen sind, beseitigt werden.
Dafür muss ein Muster vorhanden sein.
Welches Muster? Das besorgen schon die Europäer. Sie zeigen
allen Orientalen, Asiaten, Afrikaner, wie sie denken, wie sie
sich kleiden, welche Sorgen sie haben, wie sie bauen, wie sie
ihre sozialen Verhältnisse ordnen, was sie wünschen, was sie
verbrauchen, welche Meinungen sie vertreten und woran sie
Gefallen finden müssen.
Dann erfuhren wir plötzlich, dass eine neue Kultur unter
dem Namen der Erneuerung aller Welt angeboten wurde. Der
Modernismus war der härteste Schlag, mit dem an jedem Ort der
Welt, in der nicht-europäischen Gesellschaft die eigene
Denkweise und Identität des Menschen vernichtet wurde. Die
Arbeit der Europäer bestand darin, in allen Gesellschaften, in
welcher Form auch immer, den Wunsch nach Modernisierung zu
erwecken. Sie hatten festgestellt, dass der Orientale sogar
bereit ist, mitzuarbeiten, mit der eigenen Tradition zu
brechen und alles, was seine Identität als Nicht-Europäer
ausmacht und alle Faktoren seiner Kultur, Religion und die
eigene Persönlichkeit mit Hilfe der Europäer zu verteufeln und
zu vernichten, wenn sie auf irgendeine Weise in ihm die Liebe
zur Modernisierung erweckten.
Das Gemeinsame bei den Ländern des Fernen, des Mittleren
und des Nahen Ostens sowie der islamischen Länder und der
Länder des schwarzen Kontinentes bestand darin, dass sie der
Versuchung des Modernismus erlagen. Modernist werden
bedeutete, den Europäern ähnlich zu werden. Der Modernist ist
modern im Verbrauch, er kauft moderne Waren, er lebt in
modernen Verhältnissen; die Waren, die er verbraucht, die Art
wie er lebt, haben mit seiner echten nationalen und sozialen
Tradition nichts zu tun, sondern mit den Lebensformen, die aus
Europa eingeführt worden sind. Der Nicht-Europäer sollte also
in seinem Konsumverhalten zu einem Modernisten werden. Man
hätte ihm aber nicht sagen können, dass man seine Denkweise
und seine Persönlichkeit erneuern möchte; dann hätte er
Widerstand geleistet. Europa musste also in dem Maße, wie es
die nicht-europäischen Gesellschaften modernisiert – sie zu
modernen Konsumenten macht – ihnen begreiflich machen, dass
Modernismus dasselbe ist wie Zivilisation; denn jeder Mensch
findet Gefallen an Zivilisation. Man hat also den Modernismus
mit der Zivilisation gleichgesetzt, um den Betreffenden dazu
zu bringen, selbst bei seiner Modernisierung mitzuarbeiten.
Daher haben wir die Erfahrung gemacht, dass die
nicht-europäischen Intellektuellen sich intensiver als die
Bourgeoisie, Kapitalisten und Industriellen Europas um die
Erneuerung des Verbrauchs und der Lebensweise der
nicht-europäischen Gesellschaften bemüht haben. Die modernen
Waren können sie allerdings nicht selber produzieren – so
werden sie abhängig von einer Maschine, die für sie
produziert.
Als ich in Europa studierte, hatte eine Autofabrik
annonciert, dass sie einen Soziologie- und Psychologie-
Studenten mit gutem Gehalt einstelle. Ich suchte Arbeit. Für
mich war es interessant zu erfahren, warum eine Autofabrik
Soziologen und Psychologen braucht. Ich wandte mich an die
Firma. Während des Vorgesprächs mit dem
Public-Relation-Beauftragten der Firma sagte er mir, sie
werden wahrscheinlich fragen, warum wir einen
Soziologiestudenten zu uns gebeten haben, denn normalerweise
müssten wir mit den Studenten der technischen Fächer zu tun
haben. Ich bejahte seine Vermutung. Diese Frage möchte ich
Ihnen beantworten, sagte er. Er brachte eine geographische
Karte von Asien und Afrika und zeigte mir die Städte, in denen
ihre Autos gut verkauft wurden, und wiederum Orte, in denen
sie nicht verkauft werden konnten. Den Grund, sagte er, kann
man von einem Ingenieur nicht erfahren. Der Soziologe muss
wissen, welchen Geschmack die Leute haben, warum sie das Auto
nicht kaufen, damit wir eventuell Farbe und Auto ändern, wenn
wir nicht imstande sind, sie selber zu verändern. Dann gab er
mir ein Beispiel über den Erfolg der europäischen Soziologen
bei der Modernisierung der Stämme. Er zeigte mir ein
waldreiches, gebirgiges Land am Ufer des Tschad-Flusses, in
dem Eingeborenenstämme lebten. Er zeigte einige Ortschaften,
wo die Bewohner um eine Festung, die dem Stammeshäuptling
gehörte, wohnten. Der Stamm hat noch keine Schulen, sagte er,
es existieren keine Straßen, die Bevölkerung hat keine
ordentliche Bekleidung, sie haben keine Häuser, sie leben in
Zelten. Dann zeigte er, dass der Häuptling dieses
halbzivilisierten Stammes 2 Renault-Fahrzeuge mit goldenen
Leisten vor der Festung geparkt hatte.
Er wollte damit zeigen, dass ursprünglich das Pferd der
Bevölkerung zum Zeitvertrieb diente; wer das beste Pferd
hatte, war am berühmtesten und wurde von allen beneidet. Das
Pferd war ein Zeichen der persönlichen Eitelkeit und
Rivalität.
Solange dieser Geist in einem Stamm herrscht, kauft keiner
Autos. Alle kaufen Pferde. Wir züchten aber keine Pferde. Da
muss etwas geschehen, damit der Eingeborene das in Europa
produzierte Auto kauft.
Die Stammesfrauen schminken sich mit den pflanzlichen
Säften bestens, sie gefielen allen mit ihren Volkskleidern,
Volkstänzen und volkstümlichen Speisen. So ist es nur
natürlich, dass in solch einem Stamm die Frau weder
Kosmetik-Artikel von Christian Dior kauft, noch der Mann
Fahrzeuge von Renault. Solch einem Stamm kann der Europäer
seine Waren nicht verkaufen.
Intensive Vorarbeiten waren notwendig, damit die
europäischen Soziologen den Geschmack des Eingeborenen
verändern konnten. Zuerst fand er es „chic“ zwei schöne und
intelligente Pferde und die besten Jagdhunde vor seiner
Festung zu halten. Nun haben wir seinen Geschmack so
verändert, wir haben ihn so modernisiert, dass er nicht mehr
stolz ist, 2 Pferde vor seiner Festung halten zu können,
sondern 2 Renault mit goldenen Leisten. Wo sind denn die
Straßen? Fragte ich. Sie haben vorläufig 7-8 km Straßen um die
Festung gebaut, sagte er. Als der Häuptling den Wagen
neugekauft hatte, fuhr er jeden Tag damit spazieren. Er gab
ständig Gas, die Leute sammelten sich um den Wagen und
schauten sich ihn an. Der Fahrer war 7-8 Monate da und bekam
monatlich sein Gehalt. Da sie keine Tankstelle hatten,
brachten sie das Benzin mit den Booten von weit her.
Daraus kann man ersehen, dass die Kapitalisten nicht
vorhatten, den Stamm zu zivilisieren sondern ihn zu
modernisieren. Sie wollten Leute, die statt auf Pferde und
Reiten stolz zu sein, auf Autos und Autofahrten stolz waren.
Der Stammesführer, der Asiat oder der Nicht-Europäer ist in
der Tat modernisiert worden. Man müsste schon sehr naiv und
oberflächlich sein, um zu behaupten, dass er auch zivilisiert
wurde.