Was ist Kultur?
Hier möchte ich nicht die verschiedenen Definitionen der
Kultur wiedergeben. Welche Definition der Begriff Kultur auch
immer haben mag, man kann ihn mit folgenden Worten abstecken:
Kultur ist die Summe aller geistigen, künstlerischen,
geschichtlichen, literarischen, religiösen und gefühlsmäßigen
Erscheinungsformen, (z.B. Symbole, Zeichen, Sitten und
Gebräuche, Traditionen, Werke, kollektive
Verhaltensweisen...), die sich im Laufe der Geschichte eines
Volkes entwickelt haben. Diese Erscheinungsformen erklären die
Leiden, die Nöte. Die geistige Qualität Veranlagung, die
sozialen Eigenschaften, das materielle Leben, das soziale
Verhältnis und die wirtschaftliche Struktur eines Volkes.
Wenn ich meine Religion, meine Literatur, meine Gefühle,
meine Leiden und Nöte in meiner eigenen Kultur empfinde,
empfinde ich in Wahrheit mein eigenes Ich. Mein soziales und
geschichtliches (nicht individuelles) Ich ist die Quelle, von
der diese Kultur entsprungen ist und lebt. Die Kultur ist also
ein Überbau, eine Erscheinungsform von einem Unterbau und von
einem wirklichen Sein meiner Gesellschaft und ihrer
Geschichte. Aber durch die künstlichen und meist verdächtigen
Faktoren, die besonderen sozialen Voraussetzungen und
Verhältnissen unterworfen sind, in einer besonderen
geschichtlichen Epoche in Erscheinung treten und besondere
Probleme, Gefühle, Empfindungen hervorrufen, die von einem
anderen Geist, einer anderen Erziehung und einer anderen
sozialen, wirtschaftlichen und materiellen Gesellschaft
beeinflusst werden, so dass sie meine Kultur von meinem
Bewusstsein entfernen, und sie durch eine andere Kultur mit
einem anderen geschichtlichen, wirtschaftlichen, sozialen,
politischen Hintergrund ersetzen, identifiziere ich mich mit
einer anderen Kultur als meiner eigenen, klage ich über
Sorgen, die nicht meine sind, beklage laut die Missgunst, die
mit den kulturellen, philosophischen und sozialen
Gegebenheiten meiner Gesellschaft nicht übereinstimmt, ich
werde von Sorgen, Idealen, Wünschen befallen, die zwar in
einer anderen Gesellschaft mit bestimmten sozialen,
wirtschaftlichen, politischen und geschichtlichen
Voraussetzungen natürlich sind, aber nicht für mich. Ich
empfinde diese Sorgen und Ideale jedoch als meine eigenen. So
werde ich durch eine andere Kultur entfremdet. Der Schwarze in
Afrika, der Berber in Nordafrika, der Iraner und der Inder in
Asien, sie alle haben ihre besondere Vergangenheit und
Gegenwart. Die Sorgen, die sie aber empfinden, sind die Sorgen
einer Gesellschaft, welche die Entwicklungen des Mittelalters,
der Renaissance, der Aufklärung, des Scientismus, der
Ideologien des 19. Jahrhunderts und die der kapitalistischen
Welt nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erfahren hat.
Was geht Sie das ganze an? Welche davon gehört zu Ihrer
Geschichte, dass Sie nun die Sorgen, Ideale, Empfindungen und
Reaktionen, die daraus resultieren, in sich empfinden? Es
würde so aussehen, dass Sie z.B. über Nervenschmerzen klagen,
obwohl Sie an Fußschmerzen leiden. Warum? Weil Sie jemanden
kennen, der intelligenter, reicher, respektabler ist als Sie
und schlechte Nerven hat. Sie leiden zwar an Fußschmerzen,
entscheiden sich aber für die Behandlung Ihrer Nerven, weil
Sie das Nervenleiden eines Anderen verspüren, nicht aber die
eigenen Fußschmerzen. Ich fühle mich also nicht so, wie ich
bin, sonder so, wie es ist; das heißt, ich bin entfremdet.
Während in einer Gesellschaft Hunger und allgemeiner
Analphabetismus herrschen, empfindet der Intellektuelle dieser
Gesellschaft die gleichen Sorgen und Wünsche wie die junge
Generation von Amerika, England oder Frankreich. Er leidet
unter dem Überfluss der Wohlstandsgesellschaft und am Mangel
an geistigen Werten. Er sucht Ruhe und Entspannung. Seine
Leiden rühren von einer Ordnung, welche die Maschine ihm
aufgezwungen hat, her. Diese Ordnung hat ihm Leiden zugefügt,
über die er klagt; aber ich, der unter den Problemen einer
nicht-maschinellen Umwelt leide, klage auch über dieselben
Sorgen.
Es ist lächerlich, dass wir, die vom Auto überfahren worden
sind, uns Hände, Füße und Rippen gebrochen haben,
blutüberströmt gerade denjenigen nachahmen, der am Steuer
gesessen und uns überfahren hat. Also denjenigen, der des
Autofahrens und des Überfahrens überdrüssig geworden ist.
Auf diese Weise sind dir nicht-europäischen Gesellschaften
durch die europäischen Gesellschaften entfremdet worden; sie
leiden unter Selbstentfremdung, d.h. der Gebildete und
Intellektuelle der orientalischen Gesellschaft hat keine
Empfindungen wie ein Orientale, er klagt nicht wie ein
Orientale, er wünscht nicht wie ein Orientale und er leidet
nicht auch nicht nach den Erfordernissen seiner eigenen
Gesellschaft, er hat vielmehr die Sorgen, Leiden und Nöte
eines Europäers in einer kapitalistischen und materiellen
Überflussgesellschaft. Das ist der größte Kummer und die
größte Verirrung in der in der heutigen menschlichen
Gesellschaft; die psychische Verirrung der Persönlichkeit der
Nicht-Europäer, die in Wirklichkeit etwas anderes sind als sie
fühlen, denn sie fühlen in sich einen anderen.
In alten Zeiten identifizierten sich die nicht europäischen
Länder mit sich selbst. Vor 200 Jahren hatten sie zwar nicht
die heutige europäische Zivilisation, dafür war aber jeder er
selbst. Ihre Gefühle, ihre Wünsche, ihre Arbeitsweise, ihre
geistigen Werte, ihre Entspannung, Geschmäcke, Vergnügen, ihre
Gebete, ihre guten und schlechten Taten, ihre Künste, ihre
ästhetischen Gefühle, ihre philosophischen Gedanken, ihre
religiöse Denkweise, alle gehörten ihnen selbst.
Wenn jemand in Indien oder Afrika ankam, wusste er gleich,
dass er sich in Indien bzw. Afrika befindet. Er fand eine
besondere Geschmacksrichtung, besondere Bauweise, besondere
Dichtung. Sie malten wie ein Inder, die Dichter litten wie
Inder, sie dachten ihrer Gesellschaft entsprechend, sie hatten
ihre eigenen Farben, Krankheiten, Wünsche, Religionen – alles
gehörte ihnen. Obwohl der Lebensstandard niedrig war, gehörte
ihnen alles, was sie hatten. Sie waren nicht krank, aber arm –
denn Krankheit ist anders als Armut.
Die heutige europäische Gesellschaft hat es geschafft, in
dem Maße, wie sie die Erscheinungsformen ihrer Gesellschaft in
die nicht-europäischen Gesellschaften einführt und ihre
modernen Waren in diesen Gesellschaften verbrauchen lässt,
ihre philosophische Denkweise, Ideologien,
Geschmacksrichtungen, Verhaltensweisen in diese Gesellschaften
einzuführen – in Gesellschaften, die für diese Verhaltens- und
Denkweise, Geschmäcke und Begeisterungen nicht geeignet waren.
So wurden außerhalb der europäischen Zivilisation
Gesellschaften geschaffen wie eine Mosaikgesellschaft.