Der Offenbarer

Zivilisation und Modernismus

Ali Schariati

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Was ist Kultur?

Hier möchte ich nicht die verschiedenen Definitionen der Kultur wiedergeben. Welche Definition der Begriff Kultur auch immer haben mag, man kann ihn mit folgenden Worten abstecken: Kultur ist die Summe aller geistigen, künstlerischen, geschichtlichen, literarischen, religiösen und gefühlsmäßigen Erscheinungsformen, (z.B. Symbole, Zeichen, Sitten und Gebräuche, Traditionen, Werke, kollektive Verhaltensweisen...), die sich im Laufe der Geschichte eines Volkes entwickelt haben. Diese Erscheinungsformen erklären die Leiden, die Nöte. Die geistige Qualität Veranlagung, die sozialen Eigenschaften, das materielle Leben, das soziale Verhältnis und die wirtschaftliche Struktur eines Volkes.

Wenn ich meine Religion, meine Literatur, meine Gefühle, meine Leiden und Nöte in meiner eigenen Kultur empfinde, empfinde ich in Wahrheit mein eigenes Ich. Mein soziales und geschichtliches (nicht individuelles) Ich ist die Quelle, von der diese Kultur entsprungen ist und lebt. Die Kultur ist also ein Überbau, eine Erscheinungsform von einem Unterbau und von einem wirklichen Sein meiner Gesellschaft und ihrer Geschichte. Aber durch die künstlichen und meist verdächtigen Faktoren, die besonderen sozialen Voraussetzungen und Verhältnissen unterworfen sind, in einer besonderen geschichtlichen Epoche in Erscheinung treten und besondere Probleme, Gefühle, Empfindungen hervorrufen, die von einem anderen Geist, einer anderen Erziehung und einer anderen sozialen, wirtschaftlichen und materiellen Gesellschaft beeinflusst werden, so dass sie meine Kultur von meinem Bewusstsein entfernen, und sie durch eine andere Kultur mit einem anderen geschichtlichen, wirtschaftlichen, sozialen, politischen Hintergrund ersetzen, identifiziere ich mich mit einer anderen Kultur als meiner eigenen, klage ich über Sorgen, die nicht meine sind, beklage laut die Missgunst, die mit den kulturellen, philosophischen und sozialen Gegebenheiten meiner Gesellschaft nicht übereinstimmt, ich werde von Sorgen, Idealen, Wünschen befallen, die zwar in einer anderen Gesellschaft mit bestimmten sozialen, wirtschaftlichen, politischen und geschichtlichen Voraussetzungen natürlich sind, aber nicht für mich. Ich empfinde diese Sorgen und Ideale jedoch als meine eigenen. So werde ich durch eine andere Kultur entfremdet. Der Schwarze in Afrika, der Berber in Nordafrika, der Iraner und der Inder in Asien, sie alle haben ihre besondere Vergangenheit und Gegenwart. Die Sorgen, die sie aber empfinden, sind die Sorgen einer Gesellschaft, welche die Entwicklungen des Mittelalters, der Renaissance, der Aufklärung, des Scientismus, der Ideologien des 19. Jahrhunderts und die der kapitalistischen Welt nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erfahren hat.

Was geht Sie das ganze an? Welche davon gehört zu Ihrer Geschichte, dass Sie nun die Sorgen, Ideale, Empfindungen und Reaktionen, die daraus resultieren, in sich empfinden? Es würde so aussehen, dass Sie z.B. über Nervenschmerzen klagen, obwohl Sie an Fußschmerzen leiden. Warum? Weil Sie jemanden kennen, der intelligenter, reicher, respektabler ist als Sie und schlechte Nerven hat. Sie leiden zwar an Fußschmerzen, entscheiden sich aber für die Behandlung Ihrer Nerven, weil Sie das Nervenleiden eines Anderen verspüren, nicht aber die eigenen Fußschmerzen. Ich fühle mich also nicht so, wie ich bin, sonder so, wie es ist; das heißt, ich bin entfremdet.

Während in einer Gesellschaft Hunger und allgemeiner Analphabetismus herrschen, empfindet der Intellektuelle dieser Gesellschaft die gleichen Sorgen und Wünsche wie die junge Generation von Amerika, England oder Frankreich. Er leidet unter dem Überfluss der Wohlstandsgesellschaft und am Mangel an geistigen Werten. Er sucht Ruhe und Entspannung. Seine Leiden rühren von einer Ordnung, welche die Maschine ihm aufgezwungen hat, her. Diese Ordnung hat ihm Leiden zugefügt, über die er klagt; aber ich, der unter den Problemen einer nicht-maschinellen Umwelt leide, klage auch über dieselben Sorgen.

Es ist lächerlich, dass wir, die vom Auto überfahren worden sind, uns Hände, Füße und Rippen gebrochen haben, blutüberströmt gerade denjenigen nachahmen, der am Steuer gesessen und uns überfahren hat. Also denjenigen, der des Autofahrens und des Überfahrens überdrüssig geworden ist.

Auf diese Weise sind dir nicht-europäischen Gesellschaften durch die europäischen Gesellschaften entfremdet worden; sie leiden unter Selbstentfremdung, d.h. der Gebildete und Intellektuelle der orientalischen Gesellschaft hat keine Empfindungen wie ein Orientale, er klagt nicht wie ein Orientale, er wünscht nicht wie ein Orientale und er leidet nicht auch nicht nach den Erfordernissen seiner eigenen Gesellschaft, er hat vielmehr die Sorgen, Leiden und Nöte eines Europäers in einer kapitalistischen und materiellen Überflussgesellschaft. Das ist der größte Kummer und die größte Verirrung in der in der heutigen menschlichen Gesellschaft; die psychische Verirrung der Persönlichkeit der Nicht-Europäer, die in Wirklichkeit etwas anderes sind als sie fühlen, denn sie fühlen in sich einen anderen.

In alten Zeiten identifizierten sich die nicht europäischen Länder mit sich selbst. Vor 200 Jahren hatten sie zwar nicht die heutige europäische Zivilisation, dafür war aber jeder er selbst. Ihre Gefühle, ihre Wünsche, ihre Arbeitsweise, ihre geistigen Werte, ihre Entspannung, Geschmäcke, Vergnügen, ihre Gebete, ihre guten und schlechten Taten, ihre Künste, ihre ästhetischen Gefühle, ihre philosophischen Gedanken, ihre religiöse Denkweise, alle gehörten ihnen selbst.

Wenn jemand in Indien oder Afrika ankam, wusste er gleich, dass er sich in Indien bzw. Afrika befindet. Er fand eine besondere Geschmacksrichtung, besondere Bauweise, besondere Dichtung. Sie malten wie ein Inder, die Dichter litten wie Inder, sie dachten ihrer Gesellschaft entsprechend, sie hatten ihre eigenen Farben, Krankheiten, Wünsche, Religionen – alles gehörte ihnen. Obwohl der Lebensstandard niedrig war, gehörte ihnen alles, was sie hatten. Sie waren nicht krank, aber arm – denn Krankheit ist anders als Armut.

Die heutige europäische Gesellschaft hat es geschafft, in dem Maße, wie sie die Erscheinungsformen ihrer Gesellschaft in die nicht-europäischen Gesellschaften einführt und ihre modernen Waren in diesen Gesellschaften verbrauchen lässt, ihre philosophische Denkweise, Ideologien, Geschmacksrichtungen, Verhaltensweisen in diese Gesellschaften einzuführen – in Gesellschaften, die für diese Verhaltens- und Denkweise, Geschmäcke und Begeisterungen nicht geeignet waren. So wurden außerhalb der europäischen Zivilisation Gesellschaften geschaffen wie eine Mosaikgesellschaft.

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