Gedichte im Islam
Der Vers an der Wand

von
Friedrich Rückert

An des Palastes Fenster stand
Almamun, als er einen Mann erblickte,
Der mit der Kohl’ in seiner Hand
Schrieb etwas an die weiße Wand;
Und seiner Diener einen schickte
Der Fürst sogleich mitsamt der Kohlen
Den frechen Schreiber herzuholen,
Auch das zu lesen, was er schrieb,
Der Diener that, wie ihm befohlen,
Und brachte den Ertappten Dieb.
Doch sein Geschriebnes, Herr, vergib,
Kann ich nicht wiederholen.
Du musst es, rief der Fürst, ist dir dein Leben lieb!
Worauf der Diener sich zu fassen suchte:
So hat geschrieben der Verruchte:

O Palast mit starker Seule,
Wann zerbricht mit starker Keule
Dich die Zeit einst, dass die Eule
Nächtlich in dir nistend heule!

 Mann, rief Almamun, dis hast du geschrieben?
Weh dir! Und was hat dich dazu getrieben?

 Er sprach: O Fürst der Gläubigen,
Ich bin im Lande keiner
Der ungehorsam sträubigen,
Allein der ärmsten einer.

 Was dein Palast von Pracht und Luft
Und Herrlichkeit umschließet,
Ist besser dir als mir bewusst,
Der nichts davon genießet.

 Heut aber ging ich hungermatt
Vorüber hier und dachte,
Dass dieser Bau mir nichts, um satt
Davon zu werden, brachte.

 Und wenn er läg’ in Schutt und Graus,
Zög’ ich vom Trümmerhaufen
Vielleicht mir einen Schatz heraus,
Dafür ein Brot zu kaufen.

 Und wär’ es keine Perle rein,
Kein Edelstein gefärbet,
So wär’s ein bunter Marmelstein,
Ein farbig Glas zerscherbet.

 Da hab’ ich denn die Verse dort
In diesem Sinn geschrieben.
Dir ist gewiss des Dichters Wort
Nicht unbekannt geblieben:

 Wenn einer sieht des Andern Glück,
Und muss vorüber wallen,
So wünscht er, dass im Augenblick
Es möge nur zerfallen;
Das wünscht’ er nicht aus böser Tück’,
Als ob er Wohlgefallen
Hab’ an des Andern Missgeschick,
Er hofft nur, dass von allen
Den Stücken beim Zerfall ein Stück
Ihm werde selbst zufallen. –
Doch hier nehm’ ich mein Wort zurück;
Gott stütze deine Hallen!

 Almamun rief: Mann  soll in Eil
Ihm Trank und Speise bieten.
Und künftig sei von uns ein Teil
Des Glückes dir beschieben,
Dass deiner Worte scharfer Pfeil,
Sei diesem Haus vermieden,
Und du es unversehrt und heil
Ansehen kannst zufrieden,
Hol’ deinen Jahrgehalt, derweil
Ich es bewohn’ hienieden.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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