Gedichte im Islam
Halladsch
Über Halladsch

von
Friedrich Rückert

Ich sah meinen Herrn mit meines Herzens Augen.
Ich sprach: Wer bist du? Er sagte: Du!
Bei Dir hat das Wer kein Wer,
Wo du bist, ist kein Wer.
Die Vorstellungskraft hat keine Vorstellung von Dir,
So dass sie wüsste, wo du bist.
Du bist der, der alles Wo umfasst
Bis hin zum Nichtwo. Wo also bist Du?
Halladsch, der in Bagdad
War ein Wundertäter,
Der den Leuten zeigte
Sommerfrücht’ im Winter,
Winterfrücht’ im Sommer,
Und wenn er die Hände
Auf zum Himmel streckte,
Silberdrachmen brachte,
Denen aufgeprägt war
Kol-llahu ahad,
Sage Gott ist einer!
Den zuletzt als Ketzer
Die Gesetzgelehrten
Wussten hinzurichten,
Weil er ausgesprochen,
Ein Ersatz der Wallfahrt
Sei nach Mekka dieses,
Dass ein Mann in seinem
Haus ein Zimmer habe,
Still und rein gehalten,
Wo er alles bete,
Was man auf der Wallfahrt
Kann nach Mekka beten,
Und alsdann versammle
Alle Waisenkinder,
Die er aufzufinden
Weiß in seinem Viertel,
Und gespeist, bekleidet,
Und mit Geld beschenket,
Wieder sie entlasse –
Diesen, der sich rühmte
Dass in der Entzückung
Eins mit Gott er werde,
Sah in der Entzückung
Einst ein Mann und fragte:
Gott! Warum zur Glut ist
Pharao verdammet,
Weil er ausgerufen:
Ich bin Gott! Und Halladsch
Ist entzückt zum Himmel,
Weil er ruft das Gleiche:
Ich bin Gott! – Da hört’ er
Eine Stimme sprechen:
Pharao, als jenes
Wort er ausgerufen,
Dachte nur sich selber,
Hatte sich vergessen.
Halladsch, da er’s ausrief,
hatte sich vergessen,
Dachte nur Mich selber.
Darum war im Munde
Pharaos das „Ich bin“
Ihm ein Fluch; das „Ich bin“
Ist in Halladsch eine
Wirkung Meiner Gnade.

von Friedrich Rückert aus
Sieben Bücher morgenländischer Sagen und Geschichten", Stuttgart 1837

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