Gedichte im Islam
Bevor die Erzählung kommt zum Schluss

von Dschalaleddin Rumi, aus dem Mesnewi übersetzt von Georg Rosen

Bevor noch die Erzählung kommt zum Schluss,
Ergießt sich schon des Neides stink'ger Fluss!
Mir selbst wird zwar dadurch kein Leid getan,
Doch bringt's den Frommen leicht aus rechter Bahn.
Wie schön hat's doch Senai5 uns gelehrt,
Als er des Korans tiefern Sinn erklärt:
„Mich wundert's nicht, dass, die im Dunkeln gehen,
Nichts im Koran als nur den Wortsinn sehn.
Der Blinde spürt ja auch von Sonnenlicht
Die Wärme nur, den Glanz erkennt er nicht.“

Ein Oberesel6 aus dem Eselstall
lässt nun ertönen seines Spottes Schall:
„Das Mesnevi besteht nur aus langweiligen
Geschichten von Propheten und von Heiligen.
Darin wird kein Mysterium und enthüllt,
Noch unseres Wissensdranges Durst gestillt.
Da wird kein neuer Weg uns angezeigt,
Darauf man stufenweise aufwärts steigt.
Es führt uns nicht empor in grader Richtung
Von der 'Entsagung' bis zur 'Selbstvernichtung',
Und immer weiter bis zur höchsten Höhe,
Der Mystik letztem Ziel, der 'Gottesnähe'.
Statt dessen sind's nur törichte Histörchen
Von A bis Z die reinen Kindermärchen.“

Als einst auf Erden Gottes Buch erschien,
haben die Spötter ebenso geschrien:
„Da stehn nur alberne Geschichten drin,
Ganz ohne Wahrheit oder tiefern Sinn.
Ein rechtes Lesebuch für kleine Kinder!
Zur Unterhaötung dient's, nicht mehr, nicht minder:
Von Adam und der Schlange im Paradies,
Von Hud7 und wie den Sturm er wehen ließ,
Von Abraham und von dem Feuerbrand,
Darin er einen Rosengarten fand,
Von Noah und der Arche mit Weib und Mann
Und von dem sündigen Volk in Kanaan.
Von Joseph mit dem schönen Lockenhaar,
In den verliebt die Frau des Potiphar,
Von Ismael und wie so gut sich's traf,
dass gleich zur Stelle war das Opferschaf,
Und von der Elefantenmänner Krieg,
Und von der kleinen Schwalben großem Sieg,
Von Salomo und seiner Herrlichkeit
Und wie der Sabas Königin gefreit,
Von David und dem Psalter und Urias
Und von Schueib, dem Faster, der fast nie aß,
Von Jonas' Reise in des Fisches Bauch,
Von Lot und seines Volkes üblem Brauch,
Von Mirjams wunderbarer Mutterschaft
Und wie sie nähert der trocknen Palme Saft,
Wie Zacharieas einen Sohn begehrt
Und wie ihm das Johannes ward beschert,
Von Salih und dem trefflichen Kamel,
Von Ibris, dem Propheten sonder Fehl,
Von Lebenswasser, das Elias trinkt
Und von Karun, der in die Erde sinkt,
Von Hiobs schweren Leiden und Geduld
Und von der Juden Not durch eigne Schuld,
Und wie Gott ihnen seinen Beistand lieh
Und sie erlöste aus der Wüste Tih,
Von Moses' Feuerbusch und Wunderstab
Und wie ihm Allah die Gesetze gab,
Wie Jesus sich zum Himmel aufgeschwungen,
Von Alexander und vom 'Ewig Jungen'
Und von Muhammeds herrlicher Gestalt
Und wie den Mond er teilt durch einen Spalt.
Das ist ja kinderleicht und offenbar
Dem allereinfachsten Gemüte klar!
Wer diese Dinge wollte kommentieren,
Der würde dran nicht den Verstand verlieren.“

Doch der Prophet in voller Seelenruh'
Hört diesem törichten Gerede zu,
dann sagt er einem dieser Spötter: „Seicht
Erscheint dir Gottes Buch und kinderleicht!
Das zu erproben wüsst' ich schon ein Mittel,
Schreib' du nur mal so ein Korankapitel!“ -

Ja, wolltens's Engel selbst und Geister schreiben,
Im ersten Vers schon würden sie stecken bleiben.
Nicht klar zu Tag liegt ja des Korans Sinn,
Im Offenbaren steckt Verborgnes drin,
In diesem wiederum ein Drittes, wer das will
Begreifen, dem steht der Verstand schon still,
Und dann ein Viertes, das nur der Prophet
Und Gott, der Unvergleichliche, versteht.
Und immer weiter eins im andern fort,
Dass siebenfachen Sinn gibt jedes Wort.
Der Tor sieht im Koran das Äußre bloß,
Dem Teufel ist Adam nur ein Erdenkloß.
Des Menschen Leib, des Korans äußrer Sinn
Sind sichtbar, - unsichtbar der Geist darin.

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