Gedichte im Islam
Der blinde Koranleser

von Dschalaleddin Rumi

Im Hause eines blinden Alten war –
so sah's ein Scheich - ein Koran-Exemplar.
Im Juli kam der Scheich zu dem Asketen,
blieb ein paar Tage dann als Gast bei ihm.
«Wie seltsam, dass ich den Koran hier find' -
der gute Derwisch, er ist doch ganz blind!»
So dachte er, ward immer noch verwirrter,
denn niemand lebte da als nur der Derwisch.
«Da hängt das heil’ge Buch ... er ist allein,
Ich will nicht frech sein, misch mich auch nicht ein,
so dass ich fragte ... will geduldig schweigen
dass mich Geduld zu meinem Ziele leite.»
Er übt' Geduld und wartete ein wenig -
Geduld, das ist der Schlüssel ja zur Freude.

Als Luqman zu dem edlen David ging,
sah er: er macht' aus Eisen Ring um Ring
und legte einen in den andern nun
aus Stahl - er sah den König solches tun.
Luqman doch wusste nichts vom Panzerschmieden
er staunte nur und sein Verwundern wuchs.
«Ob es sich ziemt, dass ich ihn danach frage;
Was macht er aus den Ringen Lag' um Lage?»
Dann sagte er sich: «Nein, Geduld ist besser,
Geduld geleitet rascher mich zum Wunschziel!
Denn fragt man nicht, enthüllt sich's umso eher.
Der Vogel der Geduld fliegt ja am schnellsten.
Doch wenn man fragt, wird man es später finden;
das Leichte wird durch Ungeduld ja schwerer!»
Da Luqman eine Weile sich kasteite,
ward Davids Werk auch alsobald vollendet.
Ein Keltenpanzer war's - den legt er an
und trat vor den geduldigen Luqman
Und sprach: «O junger Held - ein Kleid, das nützt,
ist dies, das dich im Kampf vor Wunden schützt!»
Luqman sprach: «Auch Geduld ist ja ein Panzer,
der dich vor Gram und Kummer immer schützt.
Geduld ist ja mit Wahrheit klar verbunden.
Lies nur das Ende vom «Beim Nachmittag»!
Gott hat wohl hunderttausend Alchemien.
doch Alchemie wie dies sah nie ein Mensch!»

Der Gast geduldete sich; und da ward
ihm plötzlich dies Problem ganz klar enthüllt.
Er hörte des Korans Laut mitternachts,
sprang auf vom Schlaf und sah gar Wundersames:
Der Blinde las vom Buche ganz korrekt!
Da riss ihm die Geduld - er fragte ihn
und sprach: «O wundervoll - mit blinden Augen,
wie liest die Zeilen du? Was kannst du sehen?
Bist du aus Zufall auf das, was du liest.
gestoßen, legst die Hand auf diesen Text?
Man sieht es, wie den Finger du bewegst,
dass du den Blick auf jede Letter legst.»
Er sprach: «Du, fern der Unkenntnis des Leibes,
siehst du nicht wunderbar hier Gottes Werk?
Ich bat ja Gott: «O Du, zu dem wir flehen -
ach, sehnlich wünsch ich den Koran zu lesen!...
Auswendig kann ich nicht ihn - gib mir Licht
in meine Augen, wenn ich lesen möchte!»
Von Gott kam Antwort: <0 du Trefflicher,
der auf mich hofft in jedem Schmerz und Gram.
Du denkest gut von Mir, du hoffst auf Mich:
das bringt im Augenblick noch höher dich!
Wenn immer du zu rezitieren wünschst,
vom Manuskripte du zu lesen wünschst,
dann gebe Ich dir gleich dein Augenlicht,
damit du lesen kannst, o du Juwel..
Und so geschah's und jedesmal, wenn ich
die heil'ge Schrift aufschlage, um zu lesen,
dann gibt der Weise, der ja nichts vergisst,
der gnäd'ge Fürst und Schöpfer, der Er ist,
der einzigart'ge König gibt mir Sicht
wie eine Lampe in der Nacht, voll Licht.
Deshalb kann man dem Herrn nicht widersprechen:
nimmt etwas Er, so gibt Er auch Ersatz.
Verbrennt Er deinen Garten, gibt Er Trauben;
inmitten Klagesangs gibt Er dir Feiern,
dem ohne Hand, Gelähmten, gibt Er Hände,
dem Kummervollen ein berauschtes Herz.
Wir wollen nichts, und Widerspruch verließ uns,
denn der Ersatz ist mehr als das Verlorne.
Da ohne Feuer Wärme ich genieße,
ist es mir lieb, dass Er mein Feuer löscht.
Da ohne Lampe Helligkeit Er schenkt -
verlierst die Lampe du - sei nicht gekränkt!»

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